Frage an Bernhard Seidenath von Hans-Juergen C. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Warum dürfen wir Deutsche bei Eu-Entscheidungen als Volk nicht mitbestimmen wie die Iren.? Warum werden wir einfach übergangen und vor vollendete Tatsachen gestellt? Schließlich besteht Europa doch aus Bürgern und nicht nur aus Bürokraten und Politikern.
Sehr geehrter Herr Costa,
so kurz und prägnant Ihre Frage ist (für die ich herzlich danke), so komplex ist das Thema. Und brandaktuell ist es auch: Vor wenigen Wochen erst hat sich der Deutsche Bundestag mit dieser Frage befasst, fußend auf einem Gesetzentwurf, den die Fraktion der Linkspartei eingebracht hatte und mit dem Artikel 23 des Grundgesetzes geändert werden sollte. Sie sehen schon, dass diese Frage die Kompetenzen des Bayerischen Landtags und die Einflussmöglichkeiten eines Landtagsabgeordneten (erst recht in spe) übersteigt, ich möchte aber dennoch einer Antwort nicht ausweichen und etwas tiefer in die Thematik einsteigen.
Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Anwendungsfälle direkter Demokratie in unserem Gemeinwesen. Auf kommunaler Ebene und auch auf Ebene der Landesgesetzgebung in Bayern gibt es mit Bürgerbegehren/-entscheiden und Volksbegehren/-entscheiden mehrere und durchaus einflussreiche Formen direkter Demokratie. Auf Bundesebene dagegen sind nach derzeitigem Rechtsstand Volksabstimmungen ausschließlich zur Neugliederung des Bundesgebiets nach Artikel 29 des Grundgesetzes vorgesehen. Gleichwohl heißt es in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes, dass das Volk seine Staatsgewalt nicht nur durch Wahlen und besondere Organe der Gesetzgebung, sondern auch durch Abstimmungen ausübt.
Konkret geht es bei Ihrer Frage um den am 13. Dezember 2007 von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterzeichneten Vertrag von Lissabon. Er muss, um in Kraft treten zu können, durch jeden einzelnen Mitgliedstaat ratifiziert werden. Die Verfahren dazu sind unterschiedlich: in Irland gab es eine Volksabstimmung, in unserem Land sieht das Grundgesetz eine solche in einem derartigen Fall gerade nicht vor.
Zwei Gründe sind es aus verfassungsgeschichtlicher Sicht und nach Ansicht einschlägiger und namhafter Kommentatoren des Grundgesetzes (Maunz, Dürig, Herzog, Scholz) vor allem, aus denen das Grundgesetz die mittelbare Demokratie eindeutig bevorzugt:
Zum einen stand für den parlamentarischen Rat seinerzeit im Vordergrund, dass er dem deutschen Volk nach den Erfahrungen von 1933 bis 1945 die politische Reife nicht zutraute, die seiner Überzeugung nach notwendig war, um in breitem Umfang plebiszitäre Elemente in die Verfassungsordnung des Grundgesetzes aufzunehmen. Insofern tragen Artikel 20 und die zu seiner Konkretisierung erlassenen Verfassungsartikel also durchaus den Stempel der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Sechzig Jahre später ist die Situation eine andere, ist dieses Argument folglich ein recht schwaches geworden, so dass man durchaus an eine grundlegende Neuorientierung und eine Stärkung der Elemente direkter Demokratie denken könnte.
Zum zweiten waren und sind es die praktischen Schwierigkeiten, die im Zeitalter der Massendemokratie mit plebiszitären Entscheidungsformen zwangsläufig verbunden sind. Volksabstimmungen im Zusammenhang mit Volksversammlungen kommen in den Massengesellschaften ohnehin nicht in Betracht. Das dann noch verbleibende Instrument der Volksabstimmung durch den Stimmzettel aber begegnet auch in den Staaten, in denen es häufiger praktiziert wird, zunehmenden Abnutzungserscheinungen. Letztere äußern sich einerseits in außerordentlich geringen Beteiligungszahlen mit allen daraus entspringenden Gleichheitsproblemen, andererseits sind sie darin begründet, dass politische Entscheidungen immer komplizierter geworden sind bzw. weiterhin werden und zunehmende Differenzierungen erfordern, während die Abstimmungsfragen naturgemäß möglichst einfach sein müssen. Dieses Argument hat meines Erachtens nach wie vor Bedeutung.
Eine Volksabstimmung kritisch zu sehen, bedeutet aber beileibe nicht, die Bürgerinnen und Bürger zu übergehen. Vielmehr entscheiden die (Bundestags-)Abgeordneten für sie und an ihrer Stelle, die Abgeordneten wägen ab, bedenken die Folgen und treffen ihre Entscheidung nach bestem Wissen und Gewissen. So sieht es die repräsentative/mittelbare Demokratie nun einmal vor, für die sich die Väter des Grundgesetzes entschieden haben. Beim nächsten Wahltag, also spätestens (auf Bundesebene) nach vier Jahren, können die Bürgerinnen und Bürger den Abgeordneten deutlich machen, ob deren Entscheidungen in ihren Augen richtig oder falsch waren. Diesen Argumenten haben sich vor wenigen Wochen bei der eingangs erwähnten Abstimmung im Bundestag übrigens - außer der Linkspartei - sämtliche Parteien angeschlossen.
So hoffe ich, dieses weite Feld etwas ausgeleuchtet zu haben, und grüße Sie freundlich
Ihr
Bernhard Seidenath