Nach welchen Kriterien bewerten Sie Nutzen und Schaden von Corona-Maßnahmen und ab wann und wie beginnen Sie mit ihrer Beendigung?
Sehr geehrte Frau Aymaz,
Gem. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/COVID-19-Trends/COVID-19-Trends.html?__blob=publicationFile:
Die Inzidenzzahl der Positiven steigt seit Wochen.
"% COVID-ITS-Fälle an ITS-Kapazität" fällt seit Wochen.
"COVID-19 auf Intensivstation" fällt ebenfalls seit Wochen.
https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Coronavirus/Analyse_Leistungen_Ausgleichszahlungen_2020_Corona-Krise.pdf, u.a. belegen eine durchschnittliche Belegung mit COVID-19 Patienten von nur 2% in 2020.
Nach welchen Kriterien bewerten Sie die Einschränkungen der Grundrechte durch die Coronamaßnahmen?
Nach welchen Kriterien bewerten Sie die vielfältigen Kollateralschäden (gesundheitlicher, sozialer, psychischer, wirtschaftlicher, rechtlicher Art)?
Wie wägen Sie Nutzen und Schaden der Maßnahmen gegeneinander ab?
Ab wann und wie werden Sie die Coronamaßnahmen beenden?
Mit freundlichen Grüßen
Odo W.
Sehr geehrter Herr W.,
Vielen Dank für ihre Frage zu meiner Einschätzung und Beendigung der Corona Maßnahmen.
Eine einfache Antwort auf Ihre Frage gibt es nicht, da die Antwort von vielen dynamischen Faktoren abhängt. Im Mittelpunkt steht jedenfalls einer der wichtigsten Grundpfeile jeder Demokratie, nämlich, das Leben von Menschen. Menschenleben kann Nach den Wertungen des Grundgesetzes, wie das BVerfG mehrmals betont hat, nicht relativiert werden. Das Leben jeden Menschen hat den gleichen Wert wie aller anderen Menschen, unbeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe, Alter, Geschlecht, gesundheitlicher Lage usw. Dem Staat obliegt es daher, nicht nur Menschenleben aktiv nicht zu gefährden, sondern die Menschen vor Gefahren für Leben und Gesundheit zu schützen.
Dieser Schutzauftrag kann allerdings nicht so verstanden werden, dass alle andere Grundrechte zur Erreichung dieses Zwecks abweichen müssen. Es muss vielmehr eine Abwägung zwischen den kollidierenden Grundrechten und gegenläufigen Interessen vorgenommen werden. Da es allerdings hier um Leben und Gesundheit von Menschen geht, findet diese Abwägung nicht unter dem Gesichtspunkt eines Nutzen-Schaden-Verhältnisses statt. Die Schutzmaßnahmen müssen jedoch zur Erreichung des Schutzzwecks im Hinblick auf die Grundrechtseinschränkungen verhältnismäßig und angemessen sein. Das Ziel ist zum einen effektiven Schutz zu erreichen, der zum anderen nicht außer Verhältnis zur Beeinträchtigung des privaten, sozialen und wirtschaftlichen Lebens steht.
In einer Pandemie, in der sich die Lage ständig ändert, ändern sich auch die Ergebnisse der Abwägung und dementsprechend die erforderlichen und angemessenen Schutzmaßnahmen regelmäßig. Das gilt ebenfalls für die Frage der Einführung bzw. Beendigung einiger oder aller Maßnahmen. Wichtige Kriterien, die dabei eine wichtige Rolle spielen, sind u.a., die Inzidenzzahl als Frühindikator zum Infektionsgeschehen, die Hospitalisierungsrate, Zahl der Todesfälle, die Impfquote, die Überlastung und Entlastung des Gesundheitssystems ohne und mit den Maßnahmen (was wiederum dem Schutz von Leben und Gesundheit insgesamt dient), Effektivität der einzelnen Maßnahmen, Schutzgrad der Impfung vor schweren Krankheitsverläufen, die Schwere der Einschränkungen von Grundrechten, Abwägung zwischen den unterschiedlichen Maßnahmen (z.B. Kontaktbeschränkungen, teilweise Öffnungen oder Lockdown), der Einfluss der Maßnahmen auf den Arbeitsmarkt und die wirtschaftliche Lage, Ausgleichmöglichkeiten wie die wirtschaftliche Hilfspaketen…usw.
Dabei spielen zudem die Einschätzungen und Prognosen der Expert:innen und Forscher:innen eine sehr wichtige Rolle. Es wäre verfehlt dementsprechend unabhängig von der Entwicklung und Prognosen der Expert:innen Maßnahmen einzuführen oder aufzuheben. Sie weisen bei ihrer Frage zum Beispiel auf Zahlen des RKI hin, wonach trotz steigender Inzidenzen der Anteil der Covid-19- IST-Fälle an der gesamten IST-Kapazität fällt. Zur Zeit ihrer Frage haben aber u.a. das RKI selbst, der Expertenrat der Bundesregierung (der nicht nur aus Mediziner:innen besteht) und weitere Expert:inenn davor gewarnt, den Fehler wie im Sommer 2021 zu wiederholen und Schutzmaßnahmen zu eilig aufzuheben. Seit Mitte Januar steigt z.B. die Hospitalisierungsrate in NRW sehr schnell. Der Anteil der Covid-19-Fälle auf den Intensivstationen steigt ebenfalls seit 2 Wochen und liegt in NRW bei 9,99%, bundesweit bei 10,54% (stand 07.02.22).
Da es bei den erhobenen Daten und der Erstellung von Prognosen um höchst komplexe Sache geht, bin ich der Meinung, dass wir nicht nur die veröffentlichten Zahlen des RKI oder sonstige Daten betrachten sollen, sondern auch die Auswertungen und Einschätzungen des RKI oder andere Forscher:innen, um dann die geeignete Schutzmaßnahmen situationsgerecht zu bestimmen. Viele Forscher:innen sagen aktuell, dass der Übergang von der pandemischen Situation zur Endemie mit Omikron möglich erscheint, was im Ergebnis zur Aufhebung von Maßnahmen führen könnte. Das sind zum einen gute Nachrichten. Auf der anderen Seite warnen bislang alle Forscher:innen und Expert:innen, die sich mit dem Thema intensiv beschäftigen immer noch davor, Schutzmaßnahmen leichtfertig aufzuheben. Sie raten vielmehr dazu, die Entwicklung im Hinblick auf die zurzeit steigenden Zahlen abzuwarten, insbesondere weil der Höhepunkt von Omikron vor uns bevorsteht. Je nach Entwicklung der Lage kann ein Plan nach den oben genannten Kriterien erarbeitet werden, um einen verantwortungsvollen Rückkehr zur Normalität schrittweise zu ermöglichen. Die Aufhebung von Einschränkungen müssen möglichst langfristig und planungssicher betätigt werden. Nicht durchdachte Lockerungen einzuführen um kurze Zeit danach härtere Schutzmaßnahmen zu betreffen, könnte zum einen viel Menschenleben kosten und zum anderen zu noch gravierenderen sozialen und wirtschaftlichen Folgen führen.
Ich hoffe ich konnte damit Ihre Frage beantworten.
Mit freundlichen Grüßen
Berivan Aymaz