Frage an Bärbel Kofler von Roswitha G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Dr. Kofler,
mit deutlicher Mehrheit wurde im Bundestag die Verschiebung des Stichtage beschlossen, um die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen zu erleichtern. Wie beim Abtreibungsstrafrecht wird auch hier ein Unterschied gemacht zwischen geborenen und ungeborenen Mensche.
Anders als zu Beginn der Abtreibungsdebatte Anfang der 70er Jahre ist es heute wissenschaftlich nicht mehr zu bestreiten, daß der Mensch mit der Fusion von Ei- und Samenzelle beginnt und vom ersten Moment an ein vollwertiger Mensch ist.
Diesem Wissen zuwider wurde nun der Weg freigemacht zur Forschung mit bereits existierendem menschlichem Leben. Wird der Mensch hier nicht zum verfügbaren Material degradiert? Warum macht die Politik nicht ernst mit dem Lebensschutz? War nicht das Grundgesetz der Bundesrepublik mit der Forderung nach Schutz von Würde und Lebensrecht eines jeden Menschen die Konsequenz aus unserer Geschichte? Die repräsentative Meinungsumfrage von TNS-Infratest vom Januar 2008 ergab, daß sich 65,2 Prozent der Befragten gegen die Erzeugung und Zerstörung von menschlichen Embryonen zu Forschungszwecken ausgesprochen haben. Bei den Frauen waren es sogar 75, 2 Prozent. Das Parlament hat sich jedoch über den Mehrheitswillen der Bevölkerung hinweggesetzt. Da in vielen Ländern die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen unbeschränkt möglich ist, bleibt zu fragen, warum gerade Deutschland ein Interesse hat, diese ethisch problematische Forschung zu intensivieren, obwohl weltweit noch keinerlei klinischen Erfolge bei der Heilung von Krankheiten erzielt werden konnten im Gegensatz zur adulten Stammzellentherapie.
Hier wird meiner Meinung nach bewußt das Grund-und Menschenrecht auf Leben und Würde mißachtet. Was ist Ihre Stellung zu diesem Thema?
Sehr geehrte Frau Gipp,
vielen Dank für Ihre Frage zum Thema Stammzellenforschung. Sie dürfen mir glauben, dass ich mir meine Entscheidung nicht einfach gemacht habe und mir der Tragweite dessen bewusst bin, was im Deutschen Bundestag behandelt und beschlossen worden ist. Seit vielen Monaten gab es in der SPD-Bundestagsfraktion intensive Debatten zu diesem Thema und den verschieden Positionen, die sich parteiübergreifend dazu herausgebildet haben.
Stammzellforschung ist und bleibt ein brisantes und vieldiskutiertes Thema, das zeigen die kontroversen Auseinandersetzungen dazu überdeutlich. Die Vertreter der verschiedenen Standpunkte haben ihre Argumente auch in den politischen Diskurs eingebracht. Deswegen hat auch die SPD-Bundestagsfraktion versucht Kompromisse zu finden, die sowohl ethisch vertretbar als auch wissenschaftlich sinnvoll sind.
Innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion gab es den Vorstoß zu einer moderaten Anpassung der Rechtslage. Mit der vorgeschlagenen einmaligen Verschiebung des Stichtages und der Klarstellung der strafrechtlichen Vorgaben des Stammzellgesetzes soll der nach langen gesellschaftlichen und politischen Diskussionen im Jahr 2002 erreichte Kompromiss nicht aufgehoben, sondern fortgeschrieben und in seiner Substanz geschützt werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass der gesellschaftliche Mittelweg des Stammzellgesetzes erhalten bleibt. Zu diesem gehört ein in der Vergangenheit liegender, fester Stichtag. Mit diesem Instrument wird der Zielsetzung des Gesetzes entsprochen, "zu vermeiden, dass von Deutschland aus eine Gewinnung embryonaler Stammzellen veranlasst wird."
Die Verschiebung des Stichtages hat nach Ansicht von Experten keinerlei Auswirkungen auf das deutsche Embryonenschutzgesetz mit seinem hohen Schutzstandard. Auch sind keine negativen Auswirkungen der Stichtagsverschiebung auf die Förderung der Forschung mit adulten Stammzellen zu erwarten. Schon heute fließt - nicht zuletzt auf Initiative der SPD-Fraktion - ein Großteil der Fördergelder in diesen Bereich und hieran wird sich nichts ändern. Dieser Vorschlag ist in meinen Augen ein gangbarer Weg, der von der Mehrheit der Mitglieder unserer Fraktion und auch der anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag mitgetragen wird. Während die anderen diskutierten parlamentarischen Initiativen Maximalpositionen formulierten, sollte hier der Weg für einen Kompromiss geebnet werden.
Mit dem im Stammzellgesetz gefundenen Mittelweg wird man keiner der beiden ethisch eigentlich unvereinbaren Positionen (striktes Verbot bzw. komplette Freigabe der Forschung an und mit embryonalen Stammzellen) absolut gerecht. Solch eine Lösung ist in ethischen Grundsatzfragen immer widersprüchlich und inkonsequent. Die Gesellschaft könnte mit diesem Mittelweg aber deutlich mehr gewinnen, als wenn man einer der beiden Positionen allein folgen und eine Annäherung erheblich erschweren würde. Und auch darauf galt es bei der parlamentarischen Entscheidung am 11. April zu achten.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Bärbel Kofler