Frage an Bärbel Höhn von andreas i. bezüglich Gesundheit
Sehr geehrte Frau Höhn,
Ihre Partei favorisiert die sog. Bürgerversicherung. Welche Konsequenzen dieses Modell für die PKV hat ist ja wohl absehbar, und ich bitte hier von unrealistischen, politisch-rhetorischen Beschönigungsfloskeln abzusehen.
Als 39-jähriger Sachbearbeiter bei der PKV sehe ich keinen Grund, wieso ich Ihnen meine Stimme geben sollte.
Können Sie mich vom Gegenteil überzeugen?
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Israel
Sehr geehrter Herr Israel,
entschuldigen Sie die späte Antwort - Sie hatten mich ja bereits vor der Bundestagswahl angeschrieben. Da aber nach der Wahl auch immer wieder vor der Wahl ist, möchte ich Ihnen die Antwort nicht auf ewig schuldig bleiben und Ihnen unsere Argumente für die Bürgerversicherung im Einzelnen darlegen.
Warum wir die solidarische Krankenversicherung erhalten wollen
Die GKV steht für gesellschaftlichen Zusammenhalt und sorgt für die Teilhabe aller am medizinischen Fortschritt. Wir wollen sie deshalb erhalten und fortentwickeln. Durch ihre Weiterentwicklung zu einer Bürgerversicherung wollen wir ihr eine nachhaltigere Finanzierungsgrundlage geben, sie effizienter machen und bestehende Gerechtigkeitslücken schließen.
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist ein leistungsfähiges und in der Bevölkerung breit akzeptiertes Sozialsystem. Kranke erhalten unabhängig von der Höhe ihrer eingezahlten Beiträge die medizinisch notwendigen Gesundheitsleistungen. Sie gewährleistet auch bei Arbeitslosigkeit, in Phasen der Familienarbeit, bei wechselhaften Berufskarrieren oder im Alter zuverlässigen Schutz. Damit passt sie auch und gerade zu veränderten und unsteter gewordenen Lebensverläufen. Die Einkommensabhängigkeit der Beiträge – und der damit verbundenen Solidarausgleich zwischen höheren und niedrigeren Einkommen - findet in der Bevölkerung große Zustimmung.
Reformmodelle, die auf die Zerschlagung der solidarischen Krankenversicherung hinauslaufen und ihre Privatisierung vorsehen, lehnen wir strikt ab.
Schwächen der GKV
Obwohl die GKV in ihren Grundzügen ein modernes und leistungsfähiges Solidarsystem ist, weist sie einige schwerwiegende Strukturdefizite auf:
* Solidarität findet nur zwischen Durchschnitts- und Geringverdienern statt. Besserverdienende, die oberhalb der Versicherungspflichtgrenze (2005 = 3.900 €/Monat) verdienen, können sich in die private Krankenversicherung (PKV) verabschieden, die keinen Solidarausgleich kennt. Selbstständige sind nur in geringer Zahl in der GKV vertreten und Beamtinnen und Beamte werden über die Beihilfe - einem aufwändigem Sonderversorgungssystem – abgesichert. Damit sind die 10 Prozent der Bürgerinnen und Bürger mit den höchsten Einkommen und der durchschnittlich auch besten Gesundheit nicht an der Finanzierung der solidarischen Krankenversicherung beteiligt. Solidarität ohne die Stärksten – das hält auf Dauer aber kein Sozialversicherungssystem aus.
* Beiträge werden fast ausschließlich auf Löhne, Renten und Arbeitslosengeld erhoben. Dagegen bleiben Vermögenseinkommen, Gewinne und Mieteinkommen weitgehend beitragsfrei. Damit müssen fast die ganzen Solidarlasten über die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung finanziert werden. Steigende Beiträge für die Versicherten und zu hohe Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber sind die Konsequenz.
* Durch die einseitige Ausrichtung auf Löhne und Lohnersatzleistungen ist die Finanzierungsbasis der GKV nicht nachhaltig. Aufgrund der Arbeitslosigkeit, der steigenden Zahl von Rentnerinnen und Rentnern sowie veränderter Arbeitsverhältnisse (Teilzeitarbeit, unstetige Erwerbsbiographien, Mini-Jobs, Selbstständigkeit) ist die Summe der beitragspflichtigen Einkommen seit Beginn der 80er Jahre deutlich hinter der Entwicklung des Bruttoinlandprodukts zurückgeblieben. Aufgrund wachsender beruflicher Selbstständigkeit, der Begrenzung der Rentensteigerungen und der zunehmenden Bedeutung von Kapitaleinkünften für die Alterssicherung wird dieser Trend in den kommenden Jahrzehnten weiter anhalten. Die steigenden Anforderungen an das Gesundheitswesen müssen damit durch einen immer geringer werdenden Anteil des gesellschaftlichen Einkommens finanziert werden. Diese Scherenentwicklung ist der wichtigste Grund für die erheblichen Beitragssatzsteigerungen in den letzten beiden Jahrzehnten. Der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen hat errechnet, dass die Beiträge zur GKV rund 2 Prozent niedriger liegen könnten, wenn die Beitragsbasis der GKV in den letzten 20 Jahren genauso schnell gewachsen wäre, wie das Bruttoinlandsprodukt.
Was wir erreichen wollen
Ausgestaltung der Bürgerversicherung
Wir wollen diese Strukturdefizite und Gerechtigkeitslücken in der Krankenversicherung beheben. Wir treten für die Weiterentwicklung der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung zu einer Bürgerversicherung ein. Dabei gelten folgende Eckpunkte:
* Alle Bürgerinnen und Bürger werden versicherungspflichtig. Auch Beamtinnen und Beamte, Abgeordnete und Selbstständige. Die bisher Privatversicherten werden ebenfalls in die Bürgerversicherung aufgenommen. Ihre zusätzlichen Leistungsansprüche, die sie über die private Krankenversicherung erworben haben, bleiben ihnen erhalten und werden über Zusatzversicherungen gewährleistet.
* Alle Einkunftsarten – auch Vermögenseinkommen, Gewinne und Mieteinkünfte – werden in die Finanzierung der Krankenversicherung einbezogen. Damit durch die Heranziehung weiterer Einkommensarten nicht vor allem kleine und mittlere Einkommensbezieher belastet werden, wollen wir für die zusätzlichen Einkommensarten Freigrenzen einräumen und die Beitragsbemessungsgrenze (2005 = 3.525 €) moderat anheben.
Freigrenzen bedeuten, dass unterhalb dieser Grenze keine, oberhalb der Grenze Beiträge auf den vollen Betrag der zusätzlichen Einkommensarten zu zahlen sind. Damit werden kleine Einkommen aus diesen Bereichen geschont, größere jedoch in vollem Umfang bei der Beitragsberechnung berücksichtigt.
Die Erhöhung der Beitragbemessungsgrenze z.B. auf die Höhe der Versicherungspflichtgrenze (2005 = 3.900 €), würde zu Zusatzeinnahmen in Höhe von rd. 4,2 Milliarden € (das entspricht einer Senkung des Beitrags um 0,4 Prozent ) führen
* Die Parität bleibt erhalten. Die Beiträge auf Erwerbseinkommen aus abhängiger Beschäftigung werden weiterhin (soweit sie nicht den zum 1.7.2005 eingeführten Sonderbeitrag betreffen) je zur Hälfte durch
Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanziert.
* Kinder sowie nicht erwerbstätige Ehegatten und Lebenspartner, die Kinder erziehen oder Pflegeleistungen erbringen, müssen keine Beiträge zahlen Für alle anderen Ehepaare und eingetragenen Lebensgemeinschaften wird ein Ehegattensplitting eingeführt, durch das besserverdienende Einverdiener-Ehen auf einen höheren Anteil ihres Einkommens Beiträge entrichten müssen als bisher. Denn das Einkommen der Ehe- bzw. Lebenspartner wird rechnerisch auf beide Personen verteilt. Danach werden beide Einkommenshälften bis zur Beitragsbemessungsgrenze der Beitragspflicht unterworfen. Damit ändert sich für Versicherte mit einem Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze an ihrer Beitragsbelastung nichts.
* Die Bürgerversicherung kann auch durch private Krankenversicherungsunternehmen angeboten werden. Die privaten Krankenversicherungsunternehmen können also neben den Zusatzversicherungen auch weiterhin Vollversicherungen anbieten. Allerdings müssen sie sich dem Wettbewerb mit den gesetzlichen Krankenkassen stellen. Alle Bürgerinnen und Bürger können sich damit frei zwischen allen gesetzlichen und privaten Kassen entscheiden.
Die Vorteile der Bürgerversicherung
Die Bürgerversicherung ist die Antwort auf einige der zentralen Strukturdefizite der Krankenversicherung:
* Sie sorgt für mehr soziale Gerechtigkeit, weil sie die Privilegierung der Beamten, Selbstständigen und Personen mit hohen Einkommen beendet und alle Bürgerinnen und Bürger entsprechend ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit einbezieht.
* Sie stärkt die Nachhaltigkeit der Finanzierungsbasis der GKV, indem sie die Krankenversicherung aus ihrer einseitigen Anbindung an die Einkommen aus abhängiger Beschäftigung löst und mit Gewinn- und Vermögenseinkommen auch die Einkommensarten heranzieht, deren Anteil am Sozialprodukt wächst.
* Sie macht erhebliche Beitragssatzsenkungen möglich und entlastet damit auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Durch die Ausweitung des Versichertenkreises, die Verbreiterung der Beitragsbemessungsgrundlage und das Ehegattensplitting kann der durchschnittliche Krankenversicherungsbeitrag um 1,6 Prozent punkte abgesenkt werden.
* Sie ist familiengerecht, da sie die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern erhält und nicht erwerbstätige Ehegatten bzw. Lebenspartnern, die Kinder erziehen oder Pflegeleistungen erbringen, von Beiträgen freistellt.
* Zudem sorgt sie für mehr Wettbewerb. Innerhalb ihres solidarischen Rahmens konkurrieren alle Krankenversicherer – gesetzliche und private - unter einheitlichen Wettbewerbsbedingungen um die Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger. Das ist gut für die Qualität, die Wirtschaftlichkeit und die Angebotsvielfalt in unserem Gesundheitswesen.
Was werfen uns die anderen vor?
Alle Bürgerinnen und Bürger versicherungspflichtig zu machen, heißt auch für alle Leistungen finanzieren zu müssen. Für die Krankenkassen ist das ein Nullsummenspiel.
Aus zwei Gründen sticht dieses Argument nicht. Anders als in der Renten- oder Arbeitslosenversicherung ist in der Bürgerversicherung das Leistungsniveau nicht von der Höhe der eingezahlten Beiträge abhängig. Versicherte mit einem hohen Einkommen, die hohe Beiträge zahlen, erhalten die gleichen Leistungen wie Versicherte mit einem niedrigen Einkommen. Außerdem ist der Gesundheitszustand von Gutverdienenden, Selbstständigen und Beamten im Durchschnitt besser als der der meisten anderen Bevölkerungsgruppen. Deshalb fallen für sie geringere Gesundheitsausgaben an. Aus beiden Gründen wird die Finanzierung der Bürgerversicherung durch die Einbeziehung der neuen Personengruppen gestärkt.
Die Bürgerversicherung hat keine positiven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Arbeits- und Gesundheitskosten werden nicht entkoppelt.
Die Bürgerversicherung würde eine deutliche Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge und damit der Lohnnebenkosten möglich machen. Ein von der grünen Bundestagsfraktion in Auftrag gegebenes Gutachten errechnet eine Senkung des durchschnittlichen Beitragssatzes von mehr als 1,6%. Außerdem würde durch die Ausweitung der Beitragspflicht auf Vermögenseinkommen die Beitragssatzentwicklung erheblich stabilisiert. Da Vermögenseinkommen wesentlich weniger konjunkturanfällig sind als Erwerbseinkommen, würden Konjunkturschwächen nicht zu derartigen Einnahmeausfällen bei den Krankenkassen führen wie heute. Auch das wäre gut für die Beitragssatzentwicklung und die Lohnnebenkosten.
Der Einzug von Beiträgen auf Gewinn- und Vermögenseinkommen wäre extrem verwaltungsaufwändig.
Keineswegs. Die Finanzämter könnten die Krankenkassen beim Beitragseinzug unterstützen. Die Beiträge auf Gewinn- und Vermögenseinkünfte könnten im Rahmen der Steuererklärung erhoben und von den Finanzämtern an die Krankenkassen überwiesen werden.
Private und gesetzliche Kassen werden zu einer Einheitskasse gleichgeschaltet. Alle Bürger müssen in diese Zwangsversicherung. Wettbewerb findet nicht mehr statt.
In unserem Krankenversicherungssystem gibt es heute erhebliche Wettbewerbsdefizite. Zwischen der GKV und der PKV findet nur sehr wenig Wettbewerb statt. Die meisten Versicherten haben keine Wahlmöglichkeiten zwischen den beiden Versicherungssystemen. Dies gilt für die 61 Millionen GKV-Versicherten bzw. deren Familienangehörigen, deren beitragspflichtiges Einkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt. Dies gilt aber auch für viele freiwillig GKV-Versicherte, die aufgrund ihres höheren Alters, ihrer Vorerkrankungen oder der Zahl ihrer unterhaltsberechtigten Familienmitglieder in der PKV überproportional hohe Beiträge zahlen müssten. Und dies gilt auch für die Beamten und Selbstständigen, von denen die meisten überhaupt keinen Zugang zur GKV haben. Tatsächlich beschränkt sich der Wettbewerb zwischen GKV und PKV auf einkommensstarke, junge, gesunde Versicherte, die keine Kinder haben bzw. erwarten. Innerhalb der PKV beschränkt sich der Wettbewerb im Wesentlichen auf das Neukundengeschäft. Da innerhalb der PKV Altersrückstellungen aufgebaut werden und diese bei einem Versicherungswechsel nicht mitgenommen werden können, findet praktisch kein Wettbewerb um die Bestandskunden statt. Wer sich erst einmal für ein bestimmtes privates Krankenversicherungsunternehmen entschieden hat, ist diesen im Regelfall bis zum Lebensende "ausgeliefert". Erst mit der Bürgerversicherung entsteht endlich eine gemeinsame Wettbewerbsordnung, in der alle Krankenversicherer miteinander um alle Bürgerinnen und Bürger konkurrieren.
Die Bürgerversicherung führt nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu einer Sondersteuer für mittlere und untere Einkommen.
Durch die Bürgerversicherung werden erstmals auch die Bezieher höherer Einkommen beitragspflichtig. Versicherten mit mittleren oder geringen Einkommen werden durch das Absinken des durchschnittlichen
Beitragssatzes entlastet.
Die Bürgerversicherung wäre nur für Berufsanfänger möglich. Denn bestehende Verträge bei privaten Krankenversicherungen sind verfassungsrechtlich geschützt. Die Folge wären jahrzehntelange Übergangsregelungen.
In der PKV werden heute Altersrückstellungen gebildet, um höhere Beiträge im Alter abzufedern. Dies ist in der Bürgerversicherung nicht mehr erforderlich, da in ihr ein Generationenausgleich zwischen jüngeren und älteren Versicherten stattfindet. Damit werden die Altersrückstellungen nicht mehr für ihren ursprünglichen Zweck benötigt. Sie können aber für die Finanzierung von Zusatzversicherungen verwendet werden. Damit können die über dem Leistungsrahmen der Bürgerversichersicherung liegenden vertraglich vereinbarten Leistungsansprüche der heutigen PKV-Versicherten gewährleistet werden. So wird eine schnelle Einbeziehung der Privatversicherten in die Bürgerversicherung ermöglicht.
Darüber hinaus wird dadurch auch der Solidarausgleich zwischen den Generationen begrenzt. Da der Anteil der Vermögenseinkommen bei Rentnerinnen und Rentnern höher ist als bei jüngeren Versicherten, werden die Krankenversicherungskosten gleichmäßiger zwischen den Generationen verteilt. Dies ist in einer älter werdenden Gesellschaft wichtig, um die Jüngeren vor finanzieller Überforderung zu schützen.
Die Bürgerversicherung ist keine Antwort auf viele strukturelle Defizite in unserem Gesundheitswesen.
Die Bürgerversicherung ist kein Allheilmittel. Damit die solidarische Krankenversicherung trotz steigender Anforderungen leistungsfähig bleibt, sind weiterreichende Strukturreformen notwendig. Dazu zählen insbesondere bessere Rahmenbedingungen für einen stärkeren Wettbewerb um mehr Qualität und Wirtschaftlichkeit nicht nur zwischen den Kassen, sondern auch zwischen Ärzten, Krankenhäusern, Apotheken und Pharma-Unternehmen.
Ich würde mich freuen, wenn Ihnen unsere Argumentation einige Denkanstöße liefern würde - ganz unabhängig von Wahlen und Stimmvergabe.
Mit freundlichen Grüßen
Bärbel Höhn