Frage an Axel Schäfer von Christian O. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schäfer
Mit Entsetzen und Wut musste ich in den Medien den letzten Wochen mitverfolgen welche, in meinen Augen, Ungerechtigkeit in Stuttgart geschieht.
Letztendlich sind die Vorkommnisse, aufgrund der Ignoranz und dem Hinwegsetzen des Bürgerwillens der verantwortlichen Politiker, am 30.09. im Schlossgarten von Stuttgart, absehbar gewesen und eine friedliche Demonstration wurde gewaltsam und unverhänismäßig brutal beendet.
Nun hatte Ihre Partei nicht immer ein standhaftes Verhältnis zu Stuttgart21, oder bezog nicht kontinuierlich deutlich Stellung zu diesem Thema, sondern zeigte sich eher ambivalent und distanziert sich in letzter Zeit davon.
Mich verbindet noch immer sehr viel mit meiner Heimatstadt, obwohl ich nun schon seit gut acht Jahren im Ruhrgebiet lebe.
Deshalb wende ich mich an Sie, die meine Wahlkreis vertreten, und erbitte mir von Ihnen eine kurze Stellungnahme zur aktuellen Dramatik im "Ländle". Des Weiteren würde ich mich interessieren welche Stellung die SPD im Bundestag zu Stuttgart21 bezieht.
Mit freundlichen Grüßen
Christan Oswald
Sehr geehrter Herr Oswald,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die ich gerne beantworte.
Die SPD hat ihre Haltung zu „Stuttgart 21“ auf mehren Parteitagen SPD in Baden-Württemberg mit deutlicher Mehrheit beschlossen. Grundsätzlich stimmt natürlich: Was die Mehrheit beschließt, muss die Minderheit akzeptieren. Im Gegenzug genießt die Minderheit aber auch einen besonderen Schutz z.B. durch Meinungsfreiheit. Aus dem im Grundgesetz verankerten Rechtsstaatsprinzip lässt sich auch ableiten, dass Verträge einzuhalten sind. Wir bekennen uns ausdrücklich zu diesen Prinzipien.
Gleichwohl sehen wir, dass die Bevölkerung Baden-Württembergs tief gespalten ist. Zwischen den Befürwortern und Gegnern des Projektes herrscht eine lautstarke Sprachlosigkeit, die eine Auseinandersetzung auf sachlicher Ebene und das Überzeugen durch Argumente schwer möglich macht. Deswegen haben wir beschlossen, einen Moment innezuhalten und nach einem Weg zu suchen, der diese Sprachlosigkeit und Zerrissenheit überwindet.
Wer jetzt noch glaubt, dass es mit einer Politik nach dem Motto „Augen zu und durch“ eine Verwirklichung des Projektes geben könnte, nimmt die Menschen in Baden-Württemberg nicht ernst. Ein Bauprojekt wie Stuttgart 21 kann nicht gegen Menschen, die die Baustelle belagern, sich an Bäume ketten oder jeden zukünftigen Lastwagen behindern werden, durchgeführt werden. Schon heute stellt der Protest die Polizei in Baden-Württemberg und darüber hinaus die beteiligten Mitarbeiter der Baufirmen wie auch die Reisenden der Deutschen Bahn vor unzumutbare Belastungen.
Wir müssen ernst nehmen, dass den vielen Menschen die parlamentarische Verabschiedung, das ordentliche Planungsverfahren und die gerichtliche Überprüfung, die nach Recht und Gesetz abgeschlossen sind, nicht mehr reicht. Jeder Verweis auf diese Grundsätze werden als Arroganz der Macht aufgenommen. Das vertieft die Spaltung zwischen Gegnern und Befürwortern.
Politik hat die Aufgabe, Beschlüsse zu vermitteln und deren Legitimität zu sichern. Wir müssen einsehen, dass Stuttgart 21 ein neues demokratisches Mandat braucht, das den Menschen das Gefühl gibt, wieder Teil der Entscheidungsfindung zu sein. Aus diesem Grund hat die Spitze der SPD Baden-Württemberg im Juli dieses Jahres beschlossen, einen Weg zu suchen, wie Stuttgart 21 zusätzlich demokratisch legitimiert werden kann.
In der Baden-Württembergischen Landesverfassung steht in Artikel 60 Absatz 3, dass auf Antrag eines Drittels des Landtags ein Gesetz, über das zwischen der Landesregierung und dem Landtag keine Einigung herrscht, durch die Landesregierung dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden kann. Dieses „Volksgesetz“, welches durch die Mehrheit der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger beschlossen würde, wäre für alle Seiten verbindlich.
Gegenstand der Volksabstimmung ist dann ein in den Landtag eingebrachtes Gesetz, das den Ausstieg des Landes aus dem Stuttgart 21-Vertrag vorsieht. Ein solcher Ausstieg ist mit hohen Hürden versehen. Denn nach den klaren Aussagen aller Projektbeteiligten ist mit einer einvernehmlichen Vertragsaufhebung nicht zu rechnen.
Nach unserer Auffassung kommt ein besonderes Kündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) in Betracht. Diese Vorschrift ermöglicht zum einen die Kündigung, wenn sich die Verhältnisse nach Vertragsschluss so wesentlich verändert haben, dass dies ein Festhalten am Vertrag unzumutbar macht (Satz 1). Zum anderen gewährt diese Norm ein Sonderkündigungsrecht, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten (Satz 2). Es ist damit Aufgabe der Projektgegner, ihre Ablehnungsgründe in einem Ausstiegsgesetz rechtlich so zu konkretisieren, dass sie eine Sonderkündigung begründen.
Zu klären wäre auch die Höhe möglicher Entschädigungspflichten. Fairerweise müssen daher bis zur Durchführung der Abstimmung die Bauarbeiten unterbrochen bzw. auf ein Minimalmaß beschränkt werden. Das Ausstiegsgesetz sähe also eine Kündigung des Stuttgart 21-Vertrages nach § 60 Abs. 1 VwVfG und die Erfüllung der daraus entstehenden Entschädigungsansprüche vor. Ob eine solche Kündigung mit all ihren Folgen von den Menschen im Land gewünscht wird, wird dann in der Volksabstimmung entschieden.
Wie Sie sehen, fallen wir als SPD in der Frage Stuttgart 21 nicht um, sondern wir geben den Menschen die Möglichkeit, sich anhand von Sachargumenten und im vollen Bewusstsein der Konsequenzen zu entscheiden. Und - dies ist der wertvollste Gewinn unseres Vorschlags - wir durchbrechen die Sprachlosigkeit, eröffnen den Dialog und begegnen den Bürgerinnen und Bürgern in Baden-Württemberg mit dem gebührenden Respekt .
Die Äußerung von Frau Merkel in der Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestags und die Erklärungen der schwarz-gelben Landesregierung haben deutlich bewiesen, dass sie die Bürgerinnen und Bürgern und ihre Willensbekundung nicht ernstnehmen und respektieren. Wer sich einer politischen Auseinandersetzung in einer Sachfrage wie Stuttgart 21 stellt, kann unterliegen. Wer jedoch der Auseinandersetzung ausweicht und verstummt, hat mehr als nur schon verloren: er riskiert das Vertrauen in die Politik und schürt das Gefühl der Ohnmacht.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat im September einen Antrag mit dem Titel „Kein Weiterbau von Stuttgart 21 bis zur Volksabstimmung“ in den Bundestag eingebracht. Er ist in der Konsequenz entstanden, die Forderung nach der Volksabstimmung zu untermauern.
Mit freundlichen Grüßen
Axel Schäfer