Der Krieg in der Ukraine eskaliert weiter und die Energieversorgung ist nicht mehr gesichert. Ist es nicht an der Zeit deeskalierend auf beide Konfliktparteien einzuwirken, anstatt Waffen zu liefern?
Sehr geehrter Herr S.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht.
Den gewaltsamen und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, der derzeit gleichsam Auslöser für unterschiedliche außen- und sicherheitspolitische Debatten ist, verurteilen ich und meine Fraktion zutiefst. Entstanden ist eine unwiderrufliche humanitäre Katastrophe.
Die Linksfraktion versuchte, sich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ein Bild vor Ort zu erlangen. Der außenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Gregor Gysi, besuchte beispielsweise ukrainische Krankenhäuser, Notkliniken und Hilfsorganisationen im Krisengebiet (https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/hilfe-fuer-die-ukrainische-bevoelkerung-gregor-gysi-und-gerhard-trabert-auf-delegationsreise/).
Für Anfang März hatte ich selbst mit anderen linken MdB eine Reise in die Ukraine geplant, die wegen des Kriegsausbruchs ausfallen musste. Voraussichtlich werde ich diesen Besuch im August nachholen können und mir vor Ort selbst ein Bild machen. In meinem eigenen Ort habe ich durch die aktive Unterstützung der Flüchtlingsinitiative für ukrainische Kriegsflüchtlinge schon jetzt einen erschütternden Eindruck von der Lage vor Ort erhalten. Mehrere Monate war ich selbst Gastgeberin für 5 Geflüchtete, 2 Frauen und ihre 3 Kinder, die in ständigem Kontakt mit ihren Angehörigen waren, die sich weiter im Kriegsgebiet aufhielten.
In der Bewertung führen alle diese verschiedenen Eindrücke in ein Dilemma, wenn es um die Abwägung politischer Entscheidungen geht. Einerseits muss eine weitere militärische Eskalation mit Russland, als derzeit unberechenbare Nuklearmacht, unbedingt vermieden werden, das gleiche gilt für die Einbeziehung Deutschlands (oder sonstiger Länder) in den Konflikt. Ein Friedensprozess muss über diplomatische Lösungen funktionieren, weshalb ihnen weiterhin die oberste Priorität beigemessen werden muss. Dennoch hat die Ukraine als angegriffenes Land einen völkerrechtlichen Anspruch auf Selbstverteidigung und Verteidigung geht nicht ohne Waffen. Was ist nun richtig, was ist falsch? Ich finde die Entscheidung darüber außerordentlich schwierig. Für Deutschland kommt jedoch noch unsere ganz besondere Geschichte hinzu, auch sie ist ein Argument gegen Waffenlieferungen aus Deutschland. Und was passiert mit den Waffen später? Waffen werden oft viele Jahrzehnte genutzt, sie wandern von Hand in Hand, in andere Länder, andere Auseinandersetzungen, in den kriminellen Untergrund.
Für die Linke überwiegen die Argumente gegen Waffenlieferungen aus Deutschland, vor diesem Hintergrund stimmte die Linksfraktion auch gegen den am 28. April 2022 im Deutschen Bundestag eingebrachten Antrag von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP, der einer Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine den Weg ebnete. In der dazugehörigen Plenardebatte hinterfragte unser Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch vorrangig das strategische und langfristige Ziel Deutschlands hinter dieser Entscheidung und verwies auf den noch eine Woche zuvor von Bundeskanzler Olaf Scholz anvisierten Kurs, keine schweren Waffen in die Ukraine liefern zu wollen.
Weiterhin kritisieren wir scharf den 100 Milliarden Euro Paket zur Erhöhung des Rüstungsetats, da er eine enorme Aufrüstung bedeutet und die dafür benötigten Finanzmittel anderweitig viel dringender benötigt werden, beispielsweise für die Herausforderungen der Klimakrise und den Ausbau erneuerbarer Energie, die insbesondere im aktuellen Konflikt umso eklatanter wurde. Weitere Beispiele finden Sie hier: https://100mrd.linksfraktion.de/
Allerdings, und das macht diesen bestehenden Widerspruch aus, bleiben jene Versuche bislang erfolglos, eine diplomatische und somit friedliche Lösung mit der repressive und autoritäre Regierung in Russland zu finden. In dieser Konstellation ist ein weiterer und alleiniger Verweis auf diplomatische Lösungen mit Blick auf die realpolitischen Verhältnisse inhaltsleer. Ohne Druck werden Verhandlungen nicht erfolgreich sein, wenn wir keinen militärischen Druck wollen, muss es andere Optionen geben, z.B. härtere Sanktionen.
Unsere unzureichenden Positionen werden nicht nur in der historischen Zäsur mit dem russischen Angriffskriegs auf die Ukraine offensichtlich, sondern verdeutlichten sich bereits bei der Abstimmung zum Evakuierungsmandat in Afghanistan. Ausgehend davon haben sich unterschiedliche Debatten innerhalb der Linken ergeben, wie beispielsweise der von Caren Lay verfasste Text "Linke Außenpolitik braucht ein Update" (https://www.rosalux.de/news/id/46154/linke-aussenpolitik-braucht-ein-update) oder die Debatte zur "Linken Außen- und Sicherheitspolitik in Zeiten des Krieges" (https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=VuuKxsHojBI&feature=youtu.be).
Die Linke muss zwingend über eine Weiterentwicklung ihrer außen- und sicherheitspolitischen Positionen einen innerparteilichen solidarischen Diskussionsprozess führen, ohne jedoch ihre friedenspolitischen Grundsätze zu verwerfen. Das Linke sich genau diesem Themenfeld zuwenden muss, geht auch aus einer aktuellen Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung hervor (https://www.rosalux.de/publikation/id/46565/eine-partei-mit-zukunft-die-linke). In dieser gaben 43 Prozent der Befragten, die sich tendenziell vorstellen könnten, die Linke zu wählen, dies derzeit aber nicht tun, an, dass dies auf ihre außenpolitischen Positionen zurückzuführen ist.
Geht es um glaubhafte Positionen, müssen wir unsere Positionen schärfen und ausdifferenzieren, beispielsweise im Falle der Durchsetzung des Völkerrechts, insbesondere mit Blick auf das Selbstverteidigungs- und Bündnisrecht von Ländern im Angriffsfall, unser Verhältnis zur Bundeswehr oder – mit Blick auf den derzeitigen Krieg in der Ukraine - auch die Wahrung des Sicherheitsbedürfnisses von osteuropäischen Ländern. Ich werde mich gern an dieser notwendigen Debatte beteiligen, im vollen Wissen, dass es keine einfachen Lösungen und kein Schwarz-Weiß darin gibt.
Mit freundlichen Grüßen
Anke Domscheit-Berg