Portraiaufnahme von Anke Domscheit-Berg mit rotem Hut
Anke Domscheit-Berg
DIE LINKE
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Frage von Norbert S. •

Soziale Gerechtigkeit Die Linke will eine ausbeutungsfreie Gesellschaft, welche sie demokrat. Sozialismus nennt. Haben sie eine Begriffsdefinition von Ausbeutung und von deren Größen für Deutschl.?

Es gibt bisher von Seiten der Linken keine Begriffsdefinition von Ausbeutung und auch keine Aufstellung wie viel Ausbeutung es gibt.
Wie will die Linke zur einer ausbeutungsfreien Gesellschaft bzw. politischen Mehrheiten dafür kommen, wenn sie den Menschen nicht erklären kann, was sie davon haben bzw. was es konkret für Deutschland bedeutet?
Wie viel Geld geht den Menschen verloren, welche Arbeits- und Lebenszeit müssen die Menschen dafür aufwenden? Wie hoch ist der Resourcenverbrauch dafür?
Wieso kommt in Wahlprogrammen von Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen die Begriffe Ausbeutung und Umverteilung nicht vor, obwohl dies ja in jedem Dorf, in jeder Stadt, in jeden Landkreis und in jeden Bundesland tagtäglich stattfindet?

Wie ist ihre Einschätzung dazu?
Für mich sind z.B. „leistungslose Einkommen“ Ausbeutung, weil der erzielte Gewinn/Reichtumszuwachs ohne persönliches Risiko bzw. eigene Arbeit entsteht.
Monopolgewinne/Ausbeutung z.B. d. Immobilien- und Bodenspekulation u.v.a

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Antwort von
DIE LINKE

Hallo Norbert S.

den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und die Ausbeutung nach der Analyse von Karl Marx und Friedrich Engels zu erläutern, ist ungemein wichtig, jedoch für ein konkretes Wahlprogramm ein zu abstrakter Ansatz. Stattdessen werden darin konkrete Formen der Ausbeutung sowie der Umverteilung von unten nach oben, und wie wir dies umkehren wollen, benannt. Im aktuellen EU-Wahlprogramm, im Bundestagswahlprogramm 2021 und auch im aktuellen sächsischen Landtagswahlprogramm haben wir dafür auch wiederholt die Begriffe Ausbeutung und Umverteilung verwendet, um praktische Widersprüche mit diesen Begriffen zu verbinden. Im Parteiprogramm der Linken kommen sie selbstverständlich auch vor. Auf kommunaler Ebene habe ich als Bundestagsabgeordnete keinen Überblick über sämtliche Wahlprogramme. Und vielleicht haben Sie beim EU-Wahlprogramm 2024 jenes in “einfacher Sprache” aufgerufen - darin kommen die Begriffe Ausbeutung und Umverteilung ganz bewusst nicht vor, um sprachliche Barrieren minimal zu halten.

Die von Ihnen genannten Beispiele von Ausbeutung sind sehr relevant, jedenfalls Kapitalerträge und Erbschaften als problematische Formen des leistungslosen Einkommens, Monopolgewinne, Profite aus Spekulation insbesondere mit Elementen der Grundversorgung usw.  Diese Probleme werden in den mir bekannten Wahlprogrammen thematisiert und kritisiert, besonders in den Kapiteln zu Wohnungspolitik, Gesundheits-, Verkehrs- und Steuerpolitik. Hier ein paar Beispiele aus dem aktuellen EU-Wahlprogramm: Gleich das erste Hauptkapitel trägt die Überschrift “Umverteilen für soziale Gerechtigkeit”, Wir wollen Kapitalerträge genauso hoch besteuern wie Einkommen, fordern eine Vermögenssteuer, Übergewinnsteuer, Finanztransaktionssteuer, wollen Steuerschlupflöcher bei großen Erbschaften schließen, Steuerflucht durch einen globalen Mindeststeuersatz von 25% stoppen und insbesondere Strukturen der Daseinsvorsorge dem Kapitalmarkt entziehen: Krankenhaus- und Pflegekonzerne sollen in die öffentliche Hand übergeführt werden; Medizintechnik- und Pharmaindustrie müssen am Gemeinwohl ausgerichtet werden; Pflegekonzerne dürfen keine Gewinne mehr ausschütten; und zu Verkehr gibt es ein ganzes Unterkapitel zum Thema “Verkehr vergesellschaften!”. Beim Thema Wohnen fordern wir gesellschaftliche Kontrolle über den Wohnungssektor. Er darf nicht den Interessen von Immobilienkonzernen oder dem Wildwuchs von Airbnb überlassen werden. Digitalpolitisch haben wir unter anderem ein Unterkapitel mit dem Titel “Unsere Daten für eine besseres Leben nutzen statt für Profite”. Wenn Ihnen ein konkretes Kommunalwahlprogramm bekannt ist, in dem die Themen der Umverteilung und Ausbeutung fehlen sollten, weisen Sie mich gern noch einmal darauf hin und ich bemühe mich dann, eine Verbesserungsanregung weiterzugeben.

Wie sich Ausbeutung und unzureichende Umverteilung ganz direkt zum Nachteil und Risiko für Leben und Gesundheit der meisten Menschen auswirkt, versucht die Linke aktuell mit ihren EU-Wahlkampfplakaten zu verdeutlichen, etwa “Keine Profite auf Kosten der Gesundheit”, “Preise runter, Profite deckeln” und “In Frieden investieren, nicht in Waffen”. Mit Sharepics machen wir plastisch, wie sich beispielsweise fehlende Umverteilung der Gewinne von Amazon ausbeuterisch selbst auf einfache Handwerkstreibende wie Bäckereien auswirkt (https://x.com/dieLinke/status/1779877483195556029). Einige dieser Widersprüche mit ihren ganz praktischen Auswirkungen auf den Alltag der Menschen sind im aktuellen Wahlkampfspot pointiert (https://www.youtube.com/watch?v=8E2SHNWHgm4) – nur um ein paar ganz aktuelle Beispiele zu nennen. 

Sie fragen auch nach unserer Definition von "Ausbeutung". Die Position der Linken ist dazu denke ich klar erkennbar: Das derzeitige Ausmaß der Einkommensunterschiede insgesamt, besonders bei den Kapitalerträgen, ist als sehr ausbeuterisch zu bewerten und muss stark verringert werden. Dies geht aus unseren Wahlprogrammen vielfach hervor. Ab wann ein Mensch ausgebeutet wird, lässt sich jedoch trotz der marx’schen Analyse nicht umfassend definieren oder gar berechnen. Es sollte Gegenstand eines ständigen wirtschaftsdemokratischen Prozesses sein, systemische aber auch subjektiv erlebte Formen der Ausbeutung zu beschreiben und den Kampf gegen sie zu führen. Wirtschaftsdemokratie setzt allerdings eine andere Wirtschaftsordnung als heute voraus, bei der sich das Eigentum der Produktionsmittel in der Hand der Nutzenden und/oder eines demokratisch konstituierten Staates befindet. Nur so ist angemessene Teilhabe rechtlich möglich und eine wirksame Umverteilung von oben nach unten machtpolitischen überhaupt denkbar, unabhängig davon, ob sie demokratisch tatsächlich gefordert wird oder nicht.

Ich nehme Ihre Anregung, noch plastischer abzubilden, wie sich Ausbeutung negativ bezogen auf Arbeitszeiten, Arbeitsrechte und Ressourcenverbrauch auswirkt, gerne mit. Hier versuchen wir ständig besser zu werden. Denn es ist seit jeher ein paradoxer Widerspruch, dass im Kampf gegen Ausbeutung keine demokratischen Mehrheiten gewonnen werden können, obwohl große Mehrheiten unter ebendieser Ausbeutung systemisch leiden müssen. Deshalb hat es – von zeitlich begrenzten Tendenzen in Chile, Schweden und einigen anderen Ländern einmal abgesehen – bisher keinen demokratischen Sozialismus in der Praxis gegeben. Als Alternative dazu wurde mehrfach der einfacher erscheinende Weg beschritten, den Sozialismus mit autoritären Methoden gewaltsam zu verankern. Dabei bildeten sich neue, ausbeuterische Klassen heraus, etwa die politische Klasse der “Apparatschiks”. Dies kritisierte bereits Lenin im Entstehungsprozess der Sowjetunion, leider ohne gehört zu werden - die darauffolgenden Fehlentwicklungen sind bekannt. Der berechtigten Erinnerung, dass mit dem Umsturz des Kapitalismus zwar Kernursachen der Ausbeutung beseitigt wurden, sich gleichzeitig jedoch auch neue Klassen, Demokratiedefizite und Ausbeutungsformen herausbilden konnten, müssen wir mit neuen Perspektiven auf einen demokratischen Sozialismus begegnen. Dazu zählt es eben gerade nicht, eine abschließende Definition von Ausbeutung festzulegen, sondern im Gegenteil, die Frage nach dem “was ist Ausbeutung” jederzeit und ständig der demokratischen Kontrolle und Kontroverse zu unterwerfen. 

Mit freundlichen Grüßen

Anke Domscheit-Berg

 

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