Frage an Anke Domscheit-Berg von Urda S. bezüglich Menschenrechte
Was sagst du zum aktuellen BMI-Leak, Anke?
Hallo Urda,
vielen Dank für Deine Frage.
Das Dokument ist gar kein “BMI-Leak”, denn dazu müsste es sich um ein offizielles, nur bisher internes Dokument des BMI handeln, was es nicht ist. Dieses Papier wurde von einem BMI-Mitarbeiter in Eigenregie und ohne irgendeine Involvierung in das Krisenmanagement der Bundesregierung geschrieben. Es stellt daher auch keinerlei Einschätzung des BMI zur aktuellen Sachlage während der Corona-Pandemie dar, sondern eher das Gegenteil.
Das Papier des BMI-Mitarbeiters ist inhaltlich höchst problematisch, auch wenn dieser mehrere vermeintliche Expert:innen für seinen Text befragt hat. Zum Ersten sind die besagten ‘Expert:innen’ nicht zufällig oder aufgrund ihrer besonderen Expertise ausgewählt worden, sondern weil sie über den Heidelberger Allgemeinmediziner Gunter Frank rekrutiert wurden, der klare Verbindungen in das rechte Milieu hat. Auch andere dieser vermeintlichen Expert:innen zeigen Kontakte in die rechte Sphäre wie etwa Sucharit Bhakdi, der sich von Ken Jebsen interviewen ließ. Außerdem ist niemand aus diesem Personenkreis fachlich mit Virologie oder Epidemiologie betraut. Aber selbst wenn, die Anzahl ist verschwindend gering im Vergleich zu den unzähligen und tatsächlich einschlägig beschäftigten Wissenschaftler:innen, die sich abweichend äußern und in der Pandemie eine globale Gefahr für Leben und Gesundheit vieler Menschen und kejneswegs eine Fakenews sehen. Das ist ein wenig wie beim Klimawandel, wo sich auch 99% der Wissenschaftler:innen einig sind, aber 1% immer noch glauben, der Klimawandel sei Einbildung und/oder nicht menschengemacht und/oder keine Bedrohung. Vielleicht ist diese Art der Verdrängung eine persönliche Bewältigungsstrategie, mit sehr großen Bedrohungslagen umzugehen.
Das Papier ist auch deshalb sehr problematisch, weil es direkt an momentan kursierende Falschmeldungen und Verschwörungsmythen andockt. So behauptet der Autor darin beispielsweise, dass Covid-19 nicht gefährlicher sei, als die saisonale Grippe (was vielfach und faktenbasiert widerlegt worden ist) und dass die Bundesregierung Fakenews verbreite. Beide Punkte sind eine gute Erklärung dafür, warum das Papier zuerst auf rechten Blogs auftauchte.
Zum Dritten werden keine Belege vorgelegt für die wichtigsten Aussagen wie die, dass die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie schlimmer als die Pandemie selbst seien, es sind also bisher nur reine Mutmaßungen. Diesen Umstand greift das Papier auch etliche Male selbst auf, wenn es richtig feststellt, dass sich Prognosen über eine erhöhte Sterblichkeit aufgrund der Maßnahmen nicht seriös schätzen lassen oder äußerst schwierig sind. Die im Papier gemachten Schätzungen weisen dabei teilweise einen Spanne auf, die es absurd erscheinen lässt, auf Basis solcher Schätzungen eine sinnvolle Gegenüberstellung zu den getroffenen Maßnahmen zu vollziehen. Im Übrigen ist eine teils erhebliche Übersterblichkeit in etlichen Ländern und Regionen bereits nachgewiesen, z.B. im April in England und in New York City. Selbst in Deutschland, wo eine frühe und konsequente Pandemiebekämpfung die Folgen von Covid-19 im Vergleich zu anderen Ländern wie Italien, Spanien und Frankreich weniger katastrophal waren, wurde bereits eine Übersterblichkeit nachgewiesen.
Das Papier ist aus meiner Sicht daher nicht nur ohne Erkenntnisgewinn, sondern ein Pamphlet voll falscher Behauptungen und Unterstellungen, das nur ein Ziel zu haben scheint: die Bevölkerung aufzuwiegeln, die Bundesregierung zu diskreditieren und das Vertrauen in demokratische Institutionen und in die Unabhängigkeit der Wissenschaft zu erschüttern. Damit reiht es sich ein in eine Welle neuer Verschwörungstheorien, wo ständig irgendwelche geheimen Strippenzieher entlarvt werden und ein Märchen nach dem anderen erzählt wird.
Als Linke finde ich genug Gründe, die Bundesregierung zu kritisieren, auch für die Art und Weise ihres Umgangs in der Pandemie. So finde ich, dass es endlich zu einer Umgestaltung des Gesundheitswesens kommen muss, damit es nicht mehr profitorientiert ist, sondern allein für die Daseinsvorsorge da. Auch müsste viel besser für bestimmte, besonders betroffene Bevölkerungsgruppen und ihre Notstände gesorgt werden, und es gäbe noch vieles Andere. Aber ich werfe der Bundesregierung nicht vor, dass sie konsequente Schutzmaßnahmen ergriffen hat, denn nur das hat unser Land vor Zuständen wie in New York oder Italien bewahrt, wo man entscheiden musste, welcher Mensch an ein Beatmungsgerät kommen darf und wer ohne adäquate Behandlung sterben muss, Krankenhäuser in Zelten in Parks aufbaute, wo Bestattungsinstitute so überlastete waren, dass Tote von Armeekolonnen abtransportiert und in Kühlcontainern gelagert werden mussten. Ich habe zu meinen Lebzeiten keine Grippewelle erlebt, wo es solche Zustände gegegeben hat. Weltweit sind bereits fast 5 Millionen Menschen erkrankt, und das sind nur die, von denen man weiß, Stand heute sind 320.000 Menschen gestorben.
Die Wissenschaft sammelt ständig neue Erkenntnisse zu der bisher unbekannten Krankheit, gegen die noch niemand vor ihrem Auftreten immun war. Dazu gehören auch Erkenntnisse zu schweren Langzeitfolgen und komplizierten Krankheitsbildern, die keineswegs nur Alte betreffen. Meine Uroma ist noch selbst an der Spanischen Grippe gestorben, die Oma meines Vaters. Ich mache mir nun Sorgen um meinen Vater, der 85 Jahre alt ist. Er ist im Übrigen Arzt mit über 45 Berufsjahren und hält die Pandemie auch nicht für eine Erfindung oder für überdramatisiert.
Ich kann jedem nur raten, sich aus seriösen Quellen zu informieren, am besten aus verschiedenen. Zum Nachlesen zum BMI Papier empfehle ich noch folgende Links:
Zum Prüfen von Verschwörungstheorien oder Fakenews allgemein empfehle ich folgende Links:
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/
viele Grüße und bleib gesund,
Anke