Frage an Anette Kramme von Martin R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Kramme,
ich muß gestehen, ich geriet zufällig auf Ihr Portal und las die Fragen und Ihre Antworten.
Gegenwärtig ist Ihre Partei mal wieder dabei, sich zu demontieren. Warum hat Ihre Partei den Harzt-Gesetzen denn zugestimmt, wo es damals genügend warnende Stimmen gab? Nun beginnt die Parteispitze unter Kurt Beck ein wenig zurückzurudern, was ich nur begrüßen kann; denn die Schröder´sche Politik war doch nichts anderes als eine deutliche Reverenz an eine neoliberale Wirtschaftspolitik, die dazu gteführt hat, daß sich die knapp 10 % jener Bürger, die über den größten Teil des gesellschaftlichen Reichtums verfügen, noch maßloser die Taschen füllen durften. Warum hat Ihre Partei, als sie mit den Grünen regierte, nicht deutlicher die breite Masse jener Bürger im Auge gehabt, die den gesellschaftlichen Reichtum schaffen? Scheinbar ist das nun, wo immer mehr SPD-Mitglieder die Fronten wechseln und zu den LINKEN überlaufen, endlich ein klein wenig begriffen worden. Warum aber werden diese Auseinandersetzungen denn nicht parteiintern geführt? Warum darf jeder dazu öffentlich seinen Unsinn in die Medien plärren? Demontieren Sie damit nicht Ihre Spitzengenossen und letztlich die ganze Partei? Leidet darunter nicht das Ansehen der ganzen Partei? Wäre es denn nicht ratsamer gewesen, das Problem, die Harztreformen ein stückweit zurückzufahren, erst einmal in den Spitzrengremien der Partei zu beraten, ehe sich dazu alle auf allen Kanälen äußern?
Sehr geehrter Herr Runow,
für die vielen Fragen danke ich Ihnen. Im Prinzip verstehe ich Ihre Sorgen. Der Basis unserer Partei wurden in letzter Zeit schwierige Entscheidungen zugemutet. Auch mir sind diese Entscheidungen nicht immer leicht gefallen.
Ihre Einschätzung, dass die Agenda 2010 eine Reverenz an den Neoliberalismus war, geht mir jedoch zu weit. Unsere Partei hat damals Veränderungen angestoßen, die unpopulär waren und unsere Bindung zu wichtigen Wählergruppen geschwächt haben. Sie haben auch -- das möchte ich nicht verhehlen -- einige Bürger schlechter gestellt. Diese Menschen sind vielleicht ein Stück "tiefer gefallen". Aber sie sind dennoch ins soziale Netz gefallen. Dieses wurde nämlich auch innerhalb der Agenda 2010 beibehalten und nicht -- wie es ein neoliberaler Politikentwurf getan hätte -- dünnmaschiger gestaltet oder gar abgeschafft.
Den Unmut der Betroffenen kann ich natürlich nachvollziehen. Aber leider waren die Änderungen damals nötig. Und glücklicherweise haben sie auch dazu geführt, dass heute weniger Menschen in Deutschland auf das soziale Netz angewiesen sind. Wir freuen uns über ein solides Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze und höhere Steuereinnahmen. Auch dies sind Ergebnisse der Agenda 2010, dank denen nun wieder mehr Mittel für eine aktive und gerechte Arbeits- und Sozialpolitik zur Verfügung stehen.
Ich bin überzeugt, dass die SPD auf diese Erfolge stolz sein sollte. Darüber dürfen wir jedoch nicht vergessen, welche Probleme noch nicht gelöst sind. Deshalb ist es jetzt das Gebot der Stunde, die gute wirtschaftliche Lage zu nutzen, um Gerechtigkeitslücken zu schließen.
Dazu zählt für mich die von Ihnen angesprochene Verlängerung der ALG I Zahlungen für ältere Arbeitnehmer. Den Beck´schen Vorstoß teile ich voll und ganz.
Dazu zählt ebenso die ungleiche Verteilung des Reichtums, die Sie monieren. Ein wichtiger Schritt zu einer besseren Verteilung ist in meinen Augen eine gerechte Entlohnung von Arbeit. Deshalb fordern Sozialdemokraten seit langem einen gesetzlichen Mindestlohn. Diese Forderung ist in der momentanen Koalition jedoch nicht mehrheitsfähig. Daher versuchen wir, möglichst viele Branchen in das Arbeitnehmerentsendegesetz aufzunehmen, um quasi "durch die Hintertür" in diesen Wirtschaftszweigen einen Mindestlohn einzuführen. Seit diesem Jahr profitieren davon beispielsweise 850 000 Gebäudereiniger. Ab Januar 2008 wird mutmaßlich -- wiederum auf Betreiben der SPD -- die Briefzustellerbranche in das AEntG aufgenommen.
Bei allen Bedenken über manche Details der jüngeren Politikgestaltung bin ich überzeugt, dass die SPD nach wie vor die einzige Partei ist, die überzeugend für soziale Gerechtigkeit eintritt. Die selbst ernannte LINKE popularisiert nur. Eine Umsetzung all ihrer Forderungen würde rund 50 % des gegenwärtigen Bundeshaushaltes kosten. Das ist illusorisch.
Lieber Herr Runow,
zum Abschluss möchte ich noch auf Ihren Hinweis eingehen, die aktuelle öffentliche Debatte um ALG I ähnele einer Selbstmontage. Diese Meinung teile ich nur bedingt.
Zwar schmückt es auch einen Politiker, nicht in jedes Mikrofon jede Meinung zu flöten. Bei einem so wichtigen und mit Gerechtigkeitserwartungen belegten Thema wie Sozialpolitik finde ich es jedoch sogar nötig, die Bandbreite der politischen Überzeugungen in unserer Volkspartei auch öffentlich zu kommunizieren. In dieser Bandbreite können und sollen sich viele Mitglieder und auch Wähler wiederfinden. Die SPD ist eine selbstbewusste Partei mit selbstbewussten Mitgliedern. Wir teilen ähnliche Ziele und Werte, sind in der Sache aber durchaus auch einmal unterschiedlicher Meinung. Denn, und das halte ich für SPD-typisch, bei uns herrscht eine aktive Diskussionskultur. Das macht uns stark, erfordert aber auch manchmal Kraft. Wenn alle Debatten so inhaltlich und sachbezogen geführt würden wie zwischen Kurt Beck und Franz Müntefering, ist das aus meiner Sicht eher zu begrüßen als zu verdammen.
Mit freundlichen Grüßen,
Anette Kramme, MdB