Frage an Andreas Lämmel von Steffen R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Lämmel,
Auch in meinem Namen herzlichen Dank für Ihre Antwort auf die Frage von Herrn Otto hier auf abgeordnetenwatch.de! Ihre Einschätzung der Situation finde ich verwirrend, deswegen bitte ich um Klarstellung:
#1 Sie schreiben, dass die Bundesregierung nur durch aktive Mitarbeit bei der EU-Richtlinie für "in dubio pro reo" (also "Im Zweifel für den Angeklagten") sorgen konnte. Ihre Ausführung scheint zu unterstellen, dass in unseren europäischen Nachbarländern dieses Rechtsprinzip nicht gelten würde. Ich hoffe, sie stimmen mir zu, dass dem nicht so ist.
Denn laut dem neuen Gesetz dürfen jetzt Strafverfolgungsbehörden dieser Länder auf unsere gespeicherte Daten zugreifen!
#2 Weiterhin sagen sie, dass es weder zu einer "Massenspeicherung", noch zu einer "Datenflut" kommen wird. Worum handelt es sich dann? Ich halte diese von ihnen zitierten Begriffe für ziemlich treffend.
#3 Sie führen an, dass die entsprechende EU-Richtlinie auch für Deutschland umzusetzen war. Bedeutet das, sie wollten eigentlich gar nicht dafür stimmen? Herr Lämmel, Sie haben mit ihrer Stimme und nach Ihrem Gewissen für das Gesetz votiert! Sie sind Abgeordneter im deutschen Bundestag und benötigen doch keine EU-Richtlinie als Rechtfertigung.
Deswegen würde ich sie einfach nur darum bitten, den Widerspruch zwischen #1 und #3 zu erklären. Einerseits ist die Bundesregierung stark an der Ausarbeitung der o.g. Richtlinie beteiligt gewesen, andererseits wird eben diese Richtlinie häufig als Begründung für das entsprechende deutsche Gesetz genannt.
In diesem Sinne: Was war eher da, das Huhn oder das Ei?
Mit freundlichen Grüßen,
Steffen Roos
Sehr geehrter Herr Roos,
vielen Dank für Ihre Zuschrift auf www.abgeordnetenwatch.de vom 12. November 2007, in Reaktion auf meine Antwort auf die Frage von Herrn Otto, die dieser am 17. Juni 2007 an mich gestellt hatte. Ich darf an dieser Stelle auch auf eine ganz aktuelle Antwort meinerseits zum gleichen Thema, nämlich auf die Frage von Herrn Wappler vom 12. November verweisen.
Zu Nr. 1: Natürlich gilt in anderen europäischen Ländern die für einen Rechtsstaat fundamentale Unschuldsvermutung „in dubio pro reo“ genauso wie in Deutschland. Ich habe in meiner früheren Antwort deutlich machen wollen, dass dieser Grundsatz auch nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung nicht gefährdet ist, wie in vielen Zuschriften kritisiert wurde. Durch Einführung der Vorratsdatenspeicherung sei eine Unschuldsvermutung nicht mehr gegeben, vielmehr würden Millionen von Bürgern „unter Generalverdacht“ gestellt, so hieß es in vielen Zuschriften. Richtig ist aber, dass die Vorratsdatenspeicherung durch folgende Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit nicht widerspricht:
- Die gespeicherten Verbindungsdaten werden ausschließlich zur Strafverfolgung von schweren Straftaten oder von Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen wurden, eingesetzt. (Anmerkung: Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag des staatlichen Gemeinwesens hervorgehoben, siehe z.B. BVerfGE 107, 299, 316 m. w. N.)
- Die Speicherung erfolgt nicht beim Staat, sondern bei den Telekommunikationsunternehmen
- Die Speicherungsfrist wird auf 6 Monate beschränkt
- Gesprächsinhalte dürfen nicht gespeichert werden, nur Verbindungsdaten
- Die Anordnung der Erteilung einer Auskunft über gespeicherte Daten ist an strenge rechtsstaatliche Voraussetzungen (u. a. konkreter, durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht, keine anderweitige Möglichkeit der Aufklärung, Richtervorbehalt) geknüpft.
Zu Nr. 2: Die in Verbindung mit der Vorratsdatenspeicherung von Kritikern oft verwendeten Begriffe „Massenspeicherung“ und Datenflut“ implizieren regelmäßig, dass DURCH die Einführung der Vorratsdatenspeicherung ungeheure Datenmengen ZUSÄTZLICH (im Vergleich zu vorher) gespeichert werden. Dem ist aber nicht so, weil schon nach der gegenwärtigen Rechtslage Telekommunikationsunternehmen Verbindungsdaten zu Abrechnungszwecken speichern dürfen und dies auch tun. Dies betrifft z.B. alle Bürgerinnen und Bürger, die einen Einzelverbindungsnachweis bekommen. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Durch das neue Gesetz wird es allenfalls zu einem sehr moderaten Anstieg der gespeicherten Datenmenge kommen, nicht jedoch zu einer zusätzlichen „Datenflut“.
Zu Nr. 3: Es ist richtig, dass Deutschland im Ministerrat an der Entstehung der Richtlinie beteiligt war. Deutschland war nicht prinzipiell gegen die Vorratsdatenspeicherung, hat aber in den Verhandlungen darauf gedrängt, dass Maßnahmen zur Aufklärung von schweren Straftaten in einem ausgewogenen Verhältnis zum Grundrechtsschutz der Bürger stehen. Ich weise Sie aber darauf hin, dass andere Länder viel weitergehende Befugnisse für die Strafverfolgungsbehörden erreichen wollten. Auch die von Kritiker oft angeführte Klage von Irland gegen die Richtlinie, die noch vor Gericht anhängig ist, war keinesfalls gegen den Inhalt des Richtlinientextes gerichtet sondern ausschließlich gegen die Art des Zustandekommens (verfahrenstechnische Fragen). Ich halte die Richtlinie in ihrer Endfassung für richtig, ausgewogen und notwendig. Ich habe DAHER dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung (BT-Drs. 16/5846; 16/6979) am 9. November 2007 zugestimmt. In meiner Antwort an Herrn Otto wollte ich jedoch zusätzlich daran erinnern, dass Deutschland die EG-Richtlinie umzusetzen hatte, wobei ich Ihnen aber Recht gebe, dass daraus keine Verpflichtung für Abgeordnete zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten hergeleitet werden kann. Insofern besteht auch kein Widerspruch zwischen meinen Ausführungen zu Nr. 1 und Nr. 3.
Nochmals vielen Dank für Ihre Nachfrage, die mir die Gelegenheit zu einigen Präzisierungen im Vergleich zu meiner Antwort an Herrn Otto gab.
Mit freundlichen Grüßen
Andreas Lämmel
P. S. Das Huhn ist immer vor dem Ei da.