Tätigkeit als Stahllobbyist

Wie Sigmar Gabriel einem Milliardenkonzern die Tür zur Bundesregierung öffnete

Der Ex-Minister und Lobbyist hat mehr als ein Dutzend Gespräche mit der Bundesregierung geführt, unter anderem mit Kanzler Olaf Scholz. Ging es dabei auch um eine Milliarden-Förderung für den Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel? Die Regierung macht um einige Termine ein Geheimnis – ein Treffen mit Robert Habeck verschwieg sie sogar.

von Martin Reyher, 29.09.2023
Sigmar Gabriel, Robert Habeck, Olaf Scholz

Von Angela Merkel ist wenig darüber bekannt, wie sie ihre Tage als Ruheständlerin verbringt. Doch so viel lässt sich sagen: Manchmal telefoniert die Altkanzlerin noch mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach oder sie trifft sich mit ihrem Nachfolger Olaf Scholz oder mit Außenministerin Annalena Baerbock. Gesprochen wird dann, angeblich, über “allgemeine” Themen, also über dies und das.

Angela Merkel ist einer der Namen, der in einer bislang unveröffentlichten Gesprächsliste der Bundesregierung auftaucht. Die Linksfraktion im Bundestag hatte die Termine abgefragt. Sie vermutet, dass ehemalige Politiker:innen ihre politischen Kontakte inzwischen dafür nutzen, um Konzernen oder Interessenverbänden die Tür zur Bundesregierung zu öffnen. Die Liste mit den Treffen liegt abgeordnetenwatch.de und dem Tagesspiegel vor.

Einst sagte Gabriel: "Man soll nicht an Türen klopfen, hinter denen man selbst mal gesessen hat"

Während Merkel bislang keinen Anlass dafür gab, sie mit einem Lobbyjob in Verbindung zu bringen, lässt sich das bei anderen nicht sagen. Sigmar Gabriel zum Beispiel. Als sich der frühere Vizekanzler, Außen-, Wirtschafts- und Umweltminister im März 2018 aus der Regierung verabschiedete, tat er dies mit einem Vorsatz: „Man soll nicht an Türen klopfen, hinter denen man selbst mal gesessen hat“. Das ist mittlerweile hinfällig. Gabriel, inzwischen Mitglied in den Aufsichtsräten von Deutscher Bank und Siemens Energy, klopft nun häufig bei der Regierung an (mehr: "Sigmar Gabriel lobbyierte bei Merkel für die Deutsche Bank").

In der Regierungsantwort an die Linken sind insgesamt 19 Kontakte mit Gabriel aufgeführt. Mal telefonierte er mit einem Staatssekretär im Auswärtigen Amt (“allgemeiner Austausch”), mal führte er ein Gespräch mit dem Entwicklungshilfeministerium (“allgemeiner Austausch”). Politisch brisanter dürften jedoch die Termine im Bundeskanzleramt sein. 

Telefonat am Tag seiner Wahl zum Aufsichtsratschef 

Seit dem Frühjahr 2022 tauschte sich der Ex-Minister elf Mal mit wichtigen Personen in der Regierungszentrale aus. Vollkommen neu sind die meisten Kontakte, die sich aus der Regierungsantwort ergeben, nicht. Doch die Angaben bestätigen und ergänzen frühere Recherchen von abgeordnetenwatch.de, ZEIT und dem ZDF Magazin Royale.

Für den 7. April 2022 ist beispielsweise ein Telefonat zwischen Gabriel und dem Staatssekretär im Kanzleramt, Jörg Kukies, zum Thema “Thyssenkrupp/Herrenknecht” aufgeführt. Auffallend ist der Zeitpunkt des Gesprächs: Am selben Tag wurde Gabriel vom Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel zum Vorsitzenden des Aufsichtsrats gewählt. 

Gabriels Regierungstermine

7. April 2022: Sigmar Gabriel wird Vorsitzender des Aufsichtsrats der Thyssenkrupp Steel Europe AG. Am selben Tag telefoniert er mit Jörg Kukies, dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Thema: „ThyssenKrupp/Herrenknecht“.

2. Mai 2022: Treffen mit Kukies im Kanzleramt, Thema: „Stahlindustrie“

17. Mai 2022: Telefonat mit Kukies, Thema: „Auswirkungen Änderung EU-Emissionshandelssysteme“

19. Mai 2022: Weiteres Telefonat mit Kukies, Thema: „Förderung ausländischer Investitionen“ in Deutschland

5. Juli 2022: Treffen mit Olaf Scholz im Kanzleramt, Thema: „allgemeiner Austausch“

19. Juli 2022: Telefonat mit Kukies, Thema: „Stahlindustrie/Wiederaufbau UKR“

5. Dezember 2022: Zweites Treffen mit Scholz, Thema: „allgemeiner Austausch“

13. Dezember 2022: Telefonat mit Kukies zur „Zukunft der Stahlindustrie“

21. Dezember 2022: Treffen mit Robert Habeck, Thema: „allgemeiner Austausch“

7. April 2023: Telefonat mit Kukies, „allgemeiner Austausch“

14. April 2023: Telefonat mit Staatssekretär Udo Philipp (BMWK), Thema: „Beihilfen des Bundes für Thyssenkrupp Steel Europe AG“

12. Juni 2023: Telefonat mit Kukies, Thema: „Grüner Stahl“

17. August 2023: Weiteres Telefonat mit Kukies, Thema: „Energiekosten in Deutschland“

Einen kurzen Draht zur Regierung konnte man beim Essener Konzern gut gebrauchen. Thyssenkrupp Steel will seine Hochöfen mittelfristig auf so genannten “grünen Wasserstoff” umstellen, der ohne CO2-Emissionen auf Basis erneuerbarer Energien hergestellt wird. Ein Pilotprojekt in Duisburg war 2021 noch von der alten Bundesregierung als förderwürdig ausgewählt worden. Doch ob der Bund und das Land NRW den Konzern wirklich mit Beihilfen unterstützen dürfen, hing von der Zustimmung der EU-Kommission ab.

Irreführende Angaben zu Treffen mit Scholz

Ging es bei Gabriels Gesprächen mit dem Kanzleramt auch um mögliche Hürden im EU-Genehmigungsverfahren? Das lässt die Regierungsantwort an die Linken offen. Die Angaben zu Gesprächsthemen sind meist allgemein gehalten. In vielen Fällen gibt es aber einen Bezug zum Thema "Stahl". So kam es knapp einen Monat nach Gabriels Telefonat mit Staatssekretär Kukies zu einem Treffen der beiden. Als Thema gibt die Bundesregierung “Stahlindustrie” an. 

Anfang Juli 2022 hatte Gabriel einen Termin mit Kukies’ Chef. “Treffen BK Olaf Scholz” ist in der Terminliste der Regierung für den 5. Juli 2022 vermerkt. Gesprächsthema: “allgemeiner Austausch”. Das allerdings ist nur die halbe Wahrheit.

Staatssekretär Jörg Kukies, Olaf Scholz
Gabriels Gesprächspartner im Bundeskanzleramt: Staatssekretär Jörg Kukies und Kanzler Olaf Scholz.

Vor einem Jahr hatte abgeordnetenwatch.de zusammen mit ZEIT und ZDF Magazin das pikante Treffen zwischen Lobbyist Gabriel und Kanzler Scholz öffentlich gemacht. Auch damals behauptete das Kanzleramt zunächst, beide hätten sich zu einem “allgemeinen Austausch” verabredet. Doch das stimmte augenscheinlich nicht. Denn später räumte die Regierung gegenüber abgeordnetenwatch.de ein: “Am 5. Juli 2022 gab es ein Treffen zwischen dem Bundeskanzler und Sigmar Gabriel zum Thema ‘deutsche Stahlindustrie’.”

Auch bei einem anderen Gabriel-Termin verschweigt die Regierung in ihrer Antwort an die Linksfraktion einen Bezug zum Thema “Stahl”. Am 19. Mai 2022 habe Gabriel mit Kukies über die “Förderung ausländischer Investitionen” in Deutschland gesprochen, schreibt die Regierung. Gegenüber abgeordnetenwatch.de hatte das Kanzleramt vor einiger Zeit allerdings ein nicht unwesentliches Detail genannt: Es sei um die “deutsche Stahlindustrie” gegangen.

Zu den Terminen wollen die Beteiligten nichts sagen

Gabriel wollte sich zu den Gesprächen nicht äußern. Er unterliege keiner Auskunftspflicht und sei auch nicht berechtigt, Auskünfte zu geben, “die im Zusammenhang mit den von mir wahrgenommenen Mandaten stehen”, schreibt Gabriel auf Anfrage von abgeordnetenwatch.de und Tagesspiegel. Das Kanzleramt und Thyssenkrupp Steel reagierten bis zum Erscheinen des Artikels nicht. Auf eine frühere Anfrage zu Gabriels Lobbyaktivitäten hatte die Regierungszentrale mitgeteilt, man könne “zu Inhalten vertraulich geführter Gespräche keine Auskünfte zu Einzelheiten” erteilen. Thyssenkrupp Steel verwies in der Vergangenheit allgemein auf “intensive und konstruktive Gespräche mit allen zuständigen Behörden.”

Drei Tage vor Heiligabend 2022 hatte Gabriel einen Termin mit einem weiteren hochrangigen Regierungsmitglied: Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne). Habecks Ministerium verhandelte damals mit der EU-Kommission über die Bewilligung der Fördergelder für Thyssenkrupp Steel. 

Ein Treffen zwischen Gabriel und Habeck verheimlichte das Wirtschaftsministerium

Bemerkenswert an dem Termin ("Gespräch im BMWK") ist, dass er in der Regierungsantwort auftaucht. Denn das Wirtschaftsministerium (BMWK) hatte das Treffen bislang verschwiegen. Im Juni hatte abgeordnetenwatch.de dort nach Kontakten zwischen Habeck und Gabriel gefragt. Ein Sprecher verwies damals auf eine Antwort, die das Ministerium zuvor dem Linken-Abgeordneten Christian Leye auf eine ähnliche Anfrage gegeben hatte. “Treffen mit Bundesminister Habeck sind darin nicht genannt”, schrieb ein Sprecher an abgeordnetenwatch.de. Das Ministerium hatte also offenbar nicht nur abgeordnetenwatch.de, sondern auch einen Bundestagsabgeordneten in die Irre geführt. 

Warum verschwieg das Wirtschaftsministerium das Gabriel-Treffen aus dem Dezember 2022, bei dem es sich angeblich um einen "allgemeinen Austausch" handelte? Eine Anfrage ließ Habecks Ministerium bis zum Erscheinen dieses Textes unbeantwortet. 

Für Thyssenkrupp Steel ging die Geschichte am Ende gut aus. Im Juli 2023 gab die EU-Kommission grünes Licht für die Milliarden-Förderung durch den Bund und das Land NRW für den “grünen” Stahl von Thyssenkrupp. 

Gerhard Schröder, Heiko Maas, Dirk Niebel: Welche Ex-Politiker:innen mit der Regierung in Kontakt standen

Mit einer Kleinen Anfrage wollte die Linksfraktion im August mehr zu den "Lobbykontakten ehemaliger Amts- und Mandatsträger zur Bundesregierung" in Erfahrung bringen. Jetzt hat die Fraktion eine Antwort erhalten, die abgeordnetenwatch.de und dem Tagesspiegel vorliegt.

In dem Schreiben der Bundesregierung sind neben Kontakten mit dem früheren Minister und Stahllobbyisten Sigmar Gabriel (s.o.) auch Termine mit zahlreichen weiteren Ex-Politiker:innen aufgeführt. So traf sich der frühere Außen- und Justizminister Heiko Maas im März 2023 mit Bundeskanzler Scholz zu einem "allgemeinen Austausch". Maas ist seit Jahresbeginn Partner bei der Anwaltskanzlei GSK Stockmann. Auf die Frage von abgeordnetenwatch.de, ob das Treffen einen Bezug zu Maas' Kanzleitätigkeit hatte, wollten sich bis zum Erscheinen des Artikels weder der Minister a.D. noch das Kanzleramt äußern.

Der frühere FDP-Minister Dirk Niebel taucht in der Regierungsantwort mehrmals auf. Niebel betreibt inzwischen eine Beratungsagentur und ist Lobbyist für den Rüstungskonzern Rheinmetall. Im Dezember 2022 traf er Wirtschaftsminister Robert Habeck am Rande einer Konferenz in Johannesburg (Südafrika) zu einem "allgemeinen Austausch". Im Mai 2022 tauschte Niebel sich mit einem Parlamentarischen Staatssekretär im Verkehrs- und Digitalministerium über "Digitalisierung, Schienenverkehr und Logistik" aus.

Erwähnung findet außerdem Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder (SPD). Schröder wird als Teilnehmer an einer Veranstaltung zusammen mit dem Parlamentarischen Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, Michael Kellner (Grüne), zum Thema "Fahrscheinfreier Stadtverkehr Templin" im Januar 2023 aufgeführt (Update 25.04.2024: Die Bundesregierung hat nun mitgeteilt, dass es sich bei dieser Angabe um einen Fehler gehandelt habe. Tatsächlich habe Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel an besagter Veranstaltung teilgenommen und nicht Schröder.) Bereits bekannt war eine weitere Begegnung des Ex-Kanzlers mit einem Vertreter der Bundesregierung, die weitaus brisanter war: Am 5. Januar 2022, wenige Wochen vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, traf Schröder den ehemaligen Russland-Koordinator der Bundesregierung, Johann Saathoff. Saathoff ist inzwischen Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium. Bei dem Termin sei es um "die Situation der Zivilgesellschaft in Russland" gegangen.

Manches bleibt in der Regierungsantwort allerdings im Verborgenen – zum Beispiel, in wessen Auftrag die Ex-Politiker:innen mit der Bundesregierung sprachen. In ihrer Antwort führt die Regierung etwa ein Gespräch des ehemaligen Parlamentarischen Staatssekretärs Volkmar Vogel (CDU) im Bundesumweltministerium im April 2023 auf ("allgemeiner Austausch"). Nach Recherchen von abgeordnetenwatch.de wurde Vogel als Vertreter der Lobbyagentur EUTOP vorstellig, für die er laut Lobbyregister als Berater tätig ist.

Auch der Auftraggeber eines anderen Lobbyisten taucht in der Regierungsantwort nicht auf. Im Februar 2023 traf sich Florian Pronold, ein ehemaliger Parlamentarischer Staatssekretär von der SPD, mit Bauministerin Klara Geywitz (SPD), um über die EU-Nachhaltigkeitsregeln ("ESG") zu sprechen. Nach Recherchen von abgeordnetenwatch.de nahm Pronold den Termin für den Lobbyverband Zentraler Immobilien Ausschuss (ZIA) wahr, dem große Immobilienkonzerne wie Deutsche Wohnen und Vonovia angehören. (Update 20. Oktober 2023: Nach Angaben des Ministeriums liegen zu dem Treffen "keine amtlichen Informationen" vor.)

Zu bestimmten Lobbykontakten will sich die Bundesregierung gar nicht äußern. Die Linksfraktion verweist in ihrer Anfrage auf "Recherchen von abgeordnetenwatch.de", wonach aktuell mehr als 100 ehemalige Abgeordnete und Regierungsmitglieder im Lobbyregister aufgeführt sind. Die Fraktion wollte wissen, welche der Ex-Politiker:innen mit der Ampel-Regierung in Kontakt standen. Dazu verweigert die Bundesregierung eine Auskunft. Dies nachzuvollziehen, sei zu aufwändig. "Bis zu 836 Stunden" würde die Beantwortung angeblich dauern.

Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linksfraktion, Jan Korte, hält das für vorgeschoben. "Nicht unsere Fragen, sondern die wortreiche Weigerung der Bundesregierung, sie anständig zu beantworten, ist unzumutbar," schreibt er auf Anfrage. Die Regierungsantwort zeige, dass es umgehend einen exekutiven und legislativen Fußabdruck sowie eine umfassende Offenlegung von Lobbykontakten brauche. "Denn freiwillig rückt die Regierung diese Informationen offensichtlich nicht heraus."

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