Frage an Yvonne Ploetz von Irene M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Yvonne Ploetz!
Auf seiner Internetseite fordert der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand, der Conterganhersteller Grünenthal solle sich endlich seiner Verantwortung gegenüber den Conterganopfern stellen (siehe www.michael-brand.de).
Höflich und herzlich bitte ich Sie, mir folgende Fragen zu beantworten: Sollte Ihrer Meinung nach Grünenthals Eigentümerfamilie Wirtz, die über ein Gesamtvermögen von ca. 4 Milliarden Euro verfügt, schwerstgeschädigten Opfern einen Schadensersatz leisten, der diesen ein Leben in Würde ermöglicht?
Sollten die Zahlungen der Firma Diageo hier zum Vorbild dienen, die den englischen Opfern durchschnittlich umgerechnet 15.000 Euro jährlich zur Verfügung stellt?
Hier der passende BBC-Bericht zu dieser Frage:
Sehr geehrter Frau Müller,
vielen Dank für Ihre Frage und Hinweise.
Die LINKE – als soziale Partei – setzt sich mit den Sorgen der Contergangeschädigten und deren finanziellen Benachteiligung immer wieder auseinander.
Soweit ich weiß, trägt derzeit die Bundesrepublik Deutschland die finanzielle Gesamtverantwortung für Contergangeschädigte. Nachdem die Firma Grünenthal 1970 100 Millionen DM an die Conterganopfer zahlte, welche in die öffentlich-rechtliche Conterganstiftung überführt wurden, erließ der deutsche Staat – nach jahrelanger Verschleppung des Prozesses und mit Abschluss eines sittenwidrigen Vertrages – faktisch ein Enteignungsgesetz (siehe § 23 Abs. 1 des Gesetzes über die Stiftung "Hilfswerk für behinderte Kinder"). Alle Ansprüche der Contergankinder gegen die Firma Grünenthal, ihre Eigentümer und Angestellten wurden per Bundesgesetz zum Erlöschen gebracht.
Der Eigentümerfamilie Wirtz ist daher juristisch nicht beizukommen. Dass es 2005 gelang, die Firma Grünenthal zu weiteren Zahlungen zu veranlassen, war dem nachhaltigen politischen Druck aus allen Bundestagsfraktionen zu verdanken. Deshalb ist es so wichtig, dass politischer Druck auf die Firma wie auch auf die Bundesregierung und hier das zuständige Familienministerium ausgeübt wird.
Im Vergleich zur Bundesrepublik ist die Situation in Großbritannien für die durch Thalidomid Geschädigten finanziell sehr gut (s. „Internationale Studie zu Leistungen und Ansprüchen thalidomidgeschädigter Menschen in 21 Ländern“ 2012). Dass die Nachfolgefirma Diageo die Verantwortung übernimmt und weitere Zahlungen an den Thalidomide Trust,bis 2022 zugesagt hat, ist ein hervorragender Schritt und Erfolg von Politik und Opferverbänden in Großbritannien. Dies wünschen wir uns auch für die Bundesrepublik. Daher hat die Bundestagsfraktion DIE LINKE den Antrag (Bt.-Drucksache 17/11041) gestellt, die Zusammensetzung des Stiftungsrats zu ändern, so dass Menschen mit Conterganschäden und ihre Interessenvertretungen darin mehr Stimmgewicht erhalten.
Nun haben wir in der Bundesrepublik die Situation, dass sich aufgrund der Übernahme der Gesamtverantwortung durch die Bundesrepublik Deutschland ein Anspruch der geschädigten Personen und ihrer Angehörigen nach dem Sozialen Entschädigungsrecht ergibt (siehe auch Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 8. Juli 1976). Aber diesem Recht wird bislang nur ungenügend nachgekommen. Die bisher gezahlten „Conterganrenten“ und weitere finanzielle Leistungen reichen nicht, um bestehende Nachteilsausgleiche zu kompensieren (s.a. Bericht des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg 2012 für die Conterganstiftung). Finanzielle Nachteile – zum Beispiel durch Verdienstausfälle – für die Betroffenen und ihre Angehörigen kommen zu den direkten Schädigungen in Folge von Contergan hinzu. „Schmerzensgeld“ dafür wurde bisher nicht gezahlt.
Angesichts dieser Entwicklungen und der aktuellen Situation, bin ich der Auffassung, dass die Contergangeschädigten in jedem Fall Schadensersatz mindesten in einer Höhe erhalten sollten, welche Ihnen ein Leben in Würde ermöglicht. Hierbei sollte sich der Conterganhersteller Grünenthal seiner Verantwortung gegenüber den Conterganopfern stellen. Im Oktober 2012 forderte ich in diesem Zusammenhang – gemeinsam mit der Linksfraktion im Bundestag – in einem Antrag die Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren Maßnahmen spürbar zu verbessern (Bt.-Drucksache 17/11041). Dieser Antrag beinhaltete u.a. folgende Forderungen:
- Rückwirkende Erhöhung der monatlichen Entschädigungsleistungen zum 1. Januar 2012 um 300 Prozent;
- Rückwirkende Zahlung der Conterganrenten und Kapitalentschädigungen, die nach § 12 Absatz 2 des Conterganstiftunsgesetzes beantragt wurden bzw. werden;
- Erstattung der behinderungsbedingten Nachteilsausgleiche sowie Kosten für bedarfsgerechte Assistenz- und Pflegeleistungen sowie Umbaumaßnahmen in der Wohnung und am PKW durch zusätzliche einkommens- und vermögensunabhängige Leistungen aus der Conterganstiftung, solange diese nicht durch die Leistungen aus den Sozialgesetzen kompensiert werden;
- Anerkennung von Folgeschäden im Sinne der ersten Handlungsempfehlung der Universität Heidelberg;
- Zahlung eines Schmerzensgeldes;
- Die Entschuldigung des Deutschen Bundestages gegenüber allen contergangeschädigten Menschen und ihren Angehörigen.
DIE LINKE wird sich auch in Zukunft für die Conterganopfer einsetzten und für soziale Gerechtigkeit in Deutschland kämpfen!
Viele Grüße,
Ihre Yvonne Ploetz