Frage an Wolfgang Wieland von Darko M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Wieland,
Der Neuauflage des EU-Verfassungs-Vertrages dem „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“, hat die Bundesregierung bereits zugestimmt. Der Bundesrat und Sie als Mitglied des Bundestages müssen hierüber noch abstimmen.
Wir möchten Sie hiermit auf den nachfolgenden Artikel 2 „Das Recht auf Leben“, der mit das Fundament für die Grundrechte in Europa darstellen soll und über das Sie abstimmen werden, aufmerksam machen:
(Deutscher Bundestag, Drucksache 15/4900;gekürzt wegen Zeichenbeschränkung)
Artikel 2 2)
Recht auf Leben
(1) Jeder Mensch hat das Recht auf Leben.
(2) Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden.
E r l ä u t e r u n g
1. Absatz 1 dieses Artikels basiert auf Artikel 2 Absatz 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention
, der wie folgt lautet:
„(1) Das Recht jedes Menschen auf Leben wird gesetzlich geschützt …“.
2. „Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet
werden.“ Auf dieser Vorschrift beruht Artikel 2 Absatz 2 der Charta.
3. So müssen die in der EMRK enthaltenen „Negativdefinitionen“ auch als Teil der Charta betrachtet werden:
a) Artikel 2 Absatz 2:
„Eine Tötung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie durch
eine Gewaltanwendung verursacht wird, die unbedingt erforderlich ist, um
a) jemanden gegen rechtswidrige Gewalt zu verteidigen;
b) jemanden rechtmäßig festzunehmen oder jemanden, dem die Freiheit rechtmäßig entzogen ist, an der Flucht zu hindern;
c) einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“.
b) Artikel 2 des Protokolls Nr. 6:
„Ein Staat kann in seinem Recht die Todesstrafe für Taten vorsehen, die in Kriegszeiten
oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden …“.
Wir möchten von Ihnen, einem Vertreter des gesamten deutschen Volkes, der nur seinem Gewissen verpflichtet ist, wissen, ob Sie für oder gegen das genannte Vertragswerk stimmen werden.
Für eine Antwort sei vorab gedankt.
Sehr geehrter Herr Marx,
vorab mein Abstimmungsverhalten: Ich werde dem Vertragswerk und damit auch der Grundrechtecharta zustimmen. Ich teile Ihre Ablehnung der Todesstrafe, die ich aus Ihrem Schreiben erkenne. Die Einführung der Grundrechtecharta führt die Todesstrafe aber nicht quasi durch die Hintertür wieder ein.
Die Rechtslage zur Todesstrafe ändert sich durch die Einführung der Grundrechtecharta grundsätzlich nicht. Schon jetzt verweist Artikel 6 des EU-Vertrages auf die sehr viel weitgehendere Regelung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die bestimmte Formen der Todesstrafe eine Zeitlang noch kannte. Dazu ist noch folgendes zu bemerken: 2002 erklärte die EMRK durch ein Zusatzprotokoll auch die Todesstrafe in Kriegszeiten für abgeschafft. Deutschland ratifizierte das Zusatzprotokoll im Jahr 2004. Die EU selbst hat die vollständige Abschaffung der Todesstrafe zu ihren zentralen Werten erhoben und damit zur Aufnahmebedingung für neue Mitgliedsstaaten gemacht. Sie hat damit die Diskussion und Situation in möglichen Beitrittsländern beeinflusst (zB offizielle Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei, wenngleich dort immer noch über illegale Hinrichtungen berichtet wird).
Für Deutschland ist jedoch das Grundgesetz bedeutender. Nach Artikel 102 GG ist die Todesstrafe abgeschafft. Auch internationales Recht kann diese Verfassungsnorm nicht brechen oder dem Bundestag die Möglichkeit geben, sie wieder einzuführen. Vereinzelte Vorschriften auf Landesebene zur Todesstrafe, wie wir sie in Hessen noch heute und in Bayern noch bis 1998 hatten, scheiterten und scheitern immer noch an dieser Verfassungsnorm.
Einer der drei Fälle, in denen es laut EMRK zu Tötungen kommen kann, die aber nach der EMRK nicht als gerichtlich festgesetzte Strafe für eine Straftat anzusehen sind, wird auch nach deutschem Recht nicht als rechtswidrige Tötung aufgefasst. Wer sich gegen einen rechtswidrigen Angriff verteidigt und dabei den Angreifer tötet, übt keine Hinrichtung aus sondern schützt sein Leben (Notwehr).
Die übrigen zwei Fälle und die Todesstrafe für Kriegszeiten haben für die deutsche Rechtsordnung keine Bedeutung. Eine Wiedereinführung der Todesstrafe durch den Bundestag würde wie gesagt an Artikel 102 GG scheitern. Weil sich im Verbot der Todesstrafe meines Erachtens auch die Würde des Menschen verwirklicht, unterfällt dieses Verbot auch der Unabänderlichkeitsgarantie des Artikel 79 Grundgesetz.
Mit freundlichen Grüßen,
Wolfgang Wieland