Frage an Wolfgang Schäuble von Timo W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister Dr. Schäuble,
gestern Abend (12.3.2009) lief im WDR eine Reportage mit dem Titel "Geschlechtertrennung an Schulen - Zurück in die Vergangenheit?".
Wie sich der informierte Leser denken kann, handelte es sich hierbei um einen Beitrag, der den Einfluss der Ausbreitung des islamischen Wertesystems in Deutschland auf den Schulalltag thematisiert. Entgegen des sonst in den Medien üblichen "sensiblen" Umgangs mit dem Islam, wurde hier sachlich aber auch wertend über die diametralen Unterschiede zwischen Islam und aufgeklärten Gesellschaften abendländischer Prägung hinsichtlich essentieller Werte und Menschenbilder berichtet.
Der Bericht stellt implizit die Frage, wie Integration wohl gelingen soll, wenn man permanent Zugeständnisse an die Befindlichkeiten einer Gruppe macht, die teils vormittelalterliche Einstellungen hegt, welche dem meisten widersprechen, auf das wir in unserer Gesellschaft zu Recht stolz sind (z.B. Gleichberechtigung, Toleranz, sexuelle Selbstbestimmung, Freiheit der Meinung, der Kunst und der Presse, Eigenverantwortung, etc.).
Die Schulen sind mit diesem Thema allein gelassen, zumal es offenbar ein BVG-Urteil gibt, nach welchem "das Grundrecht auf Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) und der gleichermaßen mit Verfassungsrang ausgestattete staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) gleichrangige Grundrechte sind."
Hierzu meine Fragen:
1. Halten Sie diese Gleichrangigkeit tatsächlich für geeignet, die Bildung einer toleranten und aufgeklärten Bildungs- und Zivilgesellschaft zu befördern?
2. Werden bei einer Religion eigentlich in irgendeiner Weise die Inhalte der jeweiligen Lehre berücksichtigt, so dass es einen Unterschied für die Bewertung der "Religionsfreiheit" macht, ob es sich um eine pazifistisch-spirituell geprägte Religion handelt oder um z.B. eine eher aggressiv-totalitäre?
Über die Beantwortung meiner Fragen wäre ich sehr dankbar.
Mit freundlichen Grüße,
Timo Woitek
Sehr geehrter Herr Woitek,
die Inhalte einer Religion fallen unter das religiöse Selbstbestimmungsrecht als Teil der Religionsfreiheit nach Art. 4 des Grundgesetzes (GG). Bei Art. 4 GG handelt es sich um ein Grundrecht, das nicht mit geschriebenen Schranken versehen ist und daher nur durch kollidierendes Verfassungsrecht, wie z. B. die Grundrechte Dritter oder den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag begrenzt werden kann.
Besondere Anforderungen gelten aber, wenn eine Religionsgemeinschaft eine Kooperationsbeziehung mit dem Staat eingeht, wie etwa im Rahmen des Religionsunterrichts nach Art. 7 Absatz 3 Satz 2 GG. So muss eine Religionsgemeinschaft, die die Einführung von Religionsunterricht ihrer Konfession begehrt, auch die Gewähr bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Absatz 3 GG umschriebenen, fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts nicht gefährdet. Religionsgemeinschaften dürfen selbstverständlich einen Exklusivitätsanspruch erheben, dürfen diesen aber nicht mit staatlichen Machtmitteln durchsetzen. Eine Religionsgemeinschaft, die darauf hinarbeitet, kann nicht Kooperationspartner des Staates sein. Der Staat kann es nicht hinnehmen, dass der Inhalt eines wertevermittelnden Unterrichts durch eine Religionsgemeinschaft bestimmt wird, die die grundlegenden Prinzipien in Frage stellt, auf denen eben dieser Staat beruht. Insoweit findet sehr wohl eine Bewertung religiöser Inhalte statt.
Was das Verhältnis von Religionsfreiheit und staatlichem Bildungs- und Erziehungsauftrag betrifft, so sind dies gleichrangige Verfassungswerte, die im Falle einer Kollision möglichst schonend zum Ausgleich gebracht werden müssen.
Der staatliche Unterricht unterliegt dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag und der staatlichen Schulaufsicht. Diese erschöpft sich nicht in der Aufsicht über die äußeren Umstände des Unterrichts. Vielmehr kann der Staat für die Qualifikation der Lehrkräfte und die pädagogischen und wissenschaftlichen Standards Vorgaben machen und ihre Einhaltung sicherstellen. Darüber hinaus obliegt der Schulaufsicht, - in den Grenzen der Verfassung - eigene Erziehungsziele (wie Gleichberechtigung und Toleranz) für das Schulwesen zu formulieren. Dazu gehört auch die Vermittlung der genannten Verfassungsgrundsätze. Sollten im Einzelfall die allgemeinen Erziehungsziele und die Grundsätze und Vorstellungen der Religionsgemeinschaften kollidieren, kann die Religionsfreiheit zugunsten dieser allgemeinen Erziehungsziele eingeschränkt werden. Somit wird die Wahrung unserer freiheitlichen, demokratischen und toleranten Werte- und Gesellschaftsordnung sichergestellt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Wolfgang Schäuble