Frage an Willi Brase von Hildegard K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Abgeordneter Brase!
Ich habe die Debatte um den SPD-Mann Sarrazin mit wachsender Verwunderung verfolgt. Dachte ich zunächst tatsächlich nach einigen Äußerungen, die man aber wohl aus dem Zusammenhang gerissen hat, der Mann sei ein Rassist, so komme ich nach der Lektüre des Buches "Deutschland schafft sich ab" zu einem ganz anderen Schluß.
Die Eltern meines Mannes kamen im Kaiserreich als "Ruhrpolen" nach Bochum, und sie integrierten sich, wohl auch aufgrund Zugehörigkeit zum gleichen Kulturkreis. Daher meine Frage: Glauben Sie tatsächlich, daß Thilo Sarrazin, dessen Buch von der muslimischen Publizistin Necla Kelek vorgestellt worden ist, die Menschen tatsächlich hat aufwiegeln wollen? Kann es nicht auch sein, daß ein offener Diskurs den tatsächlichen Extremisten die Thematik wieder wegnimmt? Hilft das nicht gerade unserer Kultur, wenn Migranten sich in sie integrieren, hilft es nicht ihnen selbst, aus eigener Kraft den Leistungsanreizen zu folgen und einmal nicht Gemüsehändler, was ein ehrbarer Beruf ist, sondern Ingenieur oder Germanist zu werden und Geld zu verdienen?
Wie hätte Ferdinand Lassalle eine Debatte gefunden, in der ein Sozialdemokrat als "Nazi" beschimpft wird, von anderen SPD-Mitgliedern?
Solidarische Grüße,
Hildegard Kerszowitz
Sehr geehrte Frau Kerszowitz,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 22. Oktober 2011, zu dem ich gerne Stellung nehmen möchte.
Thilo Sarrazin schreibt in seinem Buch, dass Intelligenz und ebenso mangelnde Intelligenz wesentlich vererbt seien. Seine Schlussfolgerung hieraus: Deutschland werde im Durchschnitt dümmer, da vor allem die bildungsfernen Bevölkerungsgruppen in unserem Land Kinder bekämen. Als Lösung schlägt er dann unter anderem vor: Eine Prämie von 50 000 Euro für junge Akademikerinnen, die ein Kind bekommen. Eine solche Einteilung von Menschen nach ihrer Nützlichkeit widerspricht meiner sozialdemokratischen Grundüberzeugung, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Er hat mit seinen Äußerungen zu genetischen Identitäten von Völkern, Ethnien oder Religionsgemeinschaften eine Grenze überschritten und sich außerhalb der Partei- und Wertegemeinschaft der SPD gestellt. Deshalb hatte der SPD-Parteivorstand einstimmig beschlossen, ein Parteiordnungsverfahren mit dem Ziel eines Ausschlusses aus der SPD einzuleiten.
Das bedeutet nicht, dass eine offene und intensive Diskussion über Misserfolge und nicht ausgeschöpfte Potentiale der Integrationspolitik nicht notwendig ist. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich (und wird es auch weiter tun) intensiv mit dem Thema Migration beschäftigt und setzt sich für eine kohärente Migrationspolitik ein. Dies heißt, dass wir umfassende Konzepte brauchen, die zum einen die wirtschafts-, entwicklungs-, sozial- und sicherheitspolitische Erwägungen miteinander verknüpfen und unterschiedliche Formen der Zuwanderung einbeziehen. Zum anderen ist offensichtlich, dass in einer europäischen Gemeinschaft ohne Binnengrenzen eine gemeinsame, aufeinander abgestimmte europäische Zuwanderungs- und Asylpolitik zwingend ist. Angesichts der unterschiedlichen Zuwanderungsgeschichten und der „gewachsenen“ nationalen Besonderheiten der Zuwanderungssteuerung und der Integrationspolitiken gilt es den Grundsatz „Soviel einheitliche, vergemeinschaftete Politik wie möglich und soviel nationale Besonderheiten wie nötig“ bei der Politikgestaltung zu berücksichtigen. Europäische und nationale Migrationspolitik müssen sinnvoll miteinander verbunden werden.
Mit freundlichen Grüßen
Willi Brase