Frage an Volker Beck von Frank S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Mitarbeiter/innen des Büro´s Volker Beck!
In Ihrer Antwort vom 4.4.2008 auf meine Frage bzgl. der Wiedereinführung der Todesstrafe bei Aufruhr und in kriegsähnlichen Zuständen kamen sie zu dem Schluss, dass diese Tatsache durch (inter)nationale Verträge ausgeschlossen sei.
Vergangene Woche entschied der EUGH die Aufhebung der Tarifbindung bei öffentlichen Ausschreibungen und hob damit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die diese Praxis ausdrücklich erlaubte, auf.
Bitte seien sie so freundlich und zählen sie - grob - die Poltikbereiche auf, in denen meine Stimme für Herrn Beck in naher Zukunft noch Gewicht für "nationale" Politik haben wird, nachdem die einschlägigen Artikel des EU-Verfassungs"Vertrages" ratifiziert wurden.
Vielen Dank
Frank Schirmann
Sehr geehrter Herr Stirrmann,
auch wir bedauern das von Ihnen genannte Urteil des EuGH, wonach der Arbeitnehmerentsenderichtlinie Regelungen entgegenstehen können, die bei der Vergabe öffentlicher Aufträge bestimmte Tariftreueklauseln vorsehen.
Allerdings hat der EuGH kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts "aufgehoben". Der EuGH entschied aufgrund einer Vorlage des OLG Celle, das wissen wollte, ob die betreffende niedersächsische Tariftreueregelung mit Europarecht vereinbar ist. Bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht (Az.: 1 BvL 4/00) ging es dagegen im Juli 2006 um die Frage, ob das Tariftreuegesetz des Landes Berlin mit dem Grundgesetz und dem übrigen Bundesrecht vereinbar ist. Dies haben die Karlsruhrer Richter bejaht, ohne dabei jedoch die Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag, speziell mit Art.49, zu prüfen.Die Konsequenzen der EuGH-Entscheidung für die acht Bundesländer, die derzeit Tariftreueerklärungen verlangen, müssen im Einzelnen geprüft werden.
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für branchen- und regionalspezifische Mindestlöhne ein, um Lohndumping unmöglich zu machen. Bundeswirtschaftsminister *Glos* blockiert bisher erfolgreich die beiden Mindestlohn-Gesetzentwürfe aus dem Arbeitsministerium, obwohl die Koalition entsprechende Gesetzesänderungen im Juni letzten Jahres vereinbart hatte.
Damit es zu einer zügigen parlamentarischen Bearbeitung kommt, haben wir die Gesetzentwürfe des Bundesarbeitsministers zum *Arbeitnehmer-Entsendegesetz* und zum *Mindestarbeitsbedingungen-Gesetz *in den Bundestag eingebracht. So wird ein parlamentarisches Gesetzgebungsverfahren gestartet.
Mindestlöhne für alle Branchen, das ist das grüne Ziel. Auch wenn die Gesetzentwürfe aus dem Hause Scholz nicht "Eins zu Eins" grün sind, so bieten sie eine Grundlage, in die sich auch unsere Vorschläge zu Mindestlöhnen einarbeiten lassen.
Wir wollen, dass in Branchen mit starker Tarifbindung - in denen Mindestlohntarifverträge verhandelt werden - die Tarifpartner die Aufnahme ins Arbeitnehmer-Entsendegesetz beantragen. Für Branchen in denen die Tarifbindung wenig ausgeprägt ist, soll über eine Mindestlohn-Kommission für eine Lohnuntergrenze gesorgt werden, um auch hier Armutslöhne zu verhindern.
Nun zum EU-Vertrag:
Die Grünen unterstützen den Vertrag von Lissabon. Er ist nach einer achtjährigen Reformphase wichtig und richtig für die künftige Arbeit der EU. Er macht mehr europäische Politik, beispielsweise in der Außenpolitik, in der Energiepolitik, aber auch in der Innen- und Justizpolitik, möglich. Er gibt den Bürgerinnen und Bürgern mehr Rechte, denn sie können sich nun über ein Europäisches Bürgerbegehren aktiv in europäische Politik einschalten. Er wertet die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger zur Wahl zum Europäischen Parlament auf, denn dieses kann künftig in viel mehr Bereichen mitentscheiden. Er gibt den nationalen Parlamenten mehr Rechte, die sogar so weit gehen, dass ein einziges Parlament Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einlegen kann, wenn das Prinzip der Subsidiarität verletzt wurde.
Wir teilen die Sorge nicht, dass der Bundestag zu einer „Umsetzungsinstanz von EU-Recht“ wird. Nach Art. 23 (2) GG wirken in Deutschland Bundestag sowie Bundesrat in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Die Bundesregierung hat den Bundestag und den Bundesrat umfassend und zum schnellst möglichen Zeitpunkt zu unterrichten. Sie gibt dem Bundestag Gelegenheit zur Stellungnahme vor ihrer Mitwirkung an Rechtsetzungsakten der Europäischen Union und muss die Stellungnahmen bei ihren Verhandlungen berücksichtigen. Die Bundesregierung muss im Rat sogar einen Parlamentsvorbehalt einlegen, wenn der Beschluss des Bundestages in seinen wesentlichen Belangen nicht durchsetzbar ist. In einer weitreichenden Vereinbarung über die Zusammenarbeit von Bundestag und Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union werden diese Rechte konkretisiert. Soweit die Theorie. In der Praxis muss der Bundestag diese Rechte sich erst noch aneignen und gegenüber der Bundesregierung auf seine Rechten bestehen. Die Bundesregierung darf grundsätzlich nicht gegen die Beschlüsse des Deutschen Bundestages verhandeln, wie es beispielsweise bei der Vorratsdatenspeicherung geschehen ist.
Nur wenn der Gemeinschaft eine explizite Zuständigkeit übertragen wurde und sie in diesem Bereich Recht schafft, hat dieses Vorrang vor unserem nationalen Recht. Und das ist auch gut so, denn nur so kann Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geschaffen werden. Denn wenn gemeinsame Regelungen zum Beispiel für den gemeinsamen Markt nicht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten, ergeben diese ja auch gar keinen Sinn.
Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gilt also nur in den speziellen Kompetenzbereichen der Gemeinschaft und übrigens auch nur dann, wenn ein rechtlicher Schutz gewährleistet ist, wie wir ihn aus unserem Grundgesetz kennen.
Die Gemeinschaft besitzt also keine allumfassende Zuständigkeit, sondern wird nach dem Prinzip der „begrenzten Einzelermächtigung“ zuständig. Das bedeutet, dass die EU nur dann Rechtsnormen erlassen darf, wenn sie durch die Gemeinschaftsverträge dazu explizit ermächtigt ist. Bei den Bereichen Binnenmarkt, Landwirtschaft, Energie, Verkehr, Umwelt und Verbraucherschutz gilt die geteilte Zuständigkeit, das heißt, dass die Mitgliedstaaten Gesetze erlassen können, „soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausübt“. Und diese Rechtsnormen werden immer im Zusammenspiel zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, in dem dann die jeweiligen nationalen Fachminister vertreten sind, erlassen.
Der Vertrag von Lissabon schafft zudem das Recht auf Subsidiaritätskontrolle, bei der zwischen der Subsidiaritätsrüge und der Subsididaritätsklage zu unterscheiden ist. Mit der Subsidiaritätsrüge kann der Bundestag per Stellungnahme den Entwurf eines Gesetzgebungsakts rügen, wenn er gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt. Ein noch stärkeres Instrument ist die Subsidiaritätsklage: ein Viertel der Mitglieder des Bundestages kann beschließen, eine Klage zu erheben, wenn sie das Subsidiaritätsprinzip als verletzt ansehen.
Insgesamt - und nach Abwägung aller Vor- und Nachteile sind wir davon überzeugt, dass der Vertrag von Lissabon die EU demokratischer, effizienter und transparenter macht.
Allerdings ist Herr Beck der Ansicht, dass der Einfluss des Bundestages wie anderen nationalen Parlamenten gegenüber der Regierung bei Verhandlungen im Rat in Brüssel gestärkt und vom Parlament selbstbewusster eingefordert werden muss.
Der Vertrag von Lissabon kann und darf die VN-Charta sowie das Grundgesetz nicht aushebeln und er tut es unseres Erachtens auch nicht. Wir beobachten mit großem Interesse, dass vor allem die Linkspartei versucht, dem Vertrag von Lissabon eine beispiellose Militarisierung zu unterstellen und diese gegen ein vermeintlich friedfertigeres Grundgesetz und eine friedfertigere VN-Charta auszuspielen. Das ist unseres Erachtens nicht haltbar und wird auch in kaum einem anderen EU-Land so wahrgenommen.
Das Verbot eines Angriffskrieges im Grundgesetz korrespondiert mit dem Gewaltverbot der VN-Charta. Das Selbstverteidigungsrecht nach Art. 51 VN-Charta erlaubt die individuelle und kollektive Selbstverteidigung, bis der Sicherheitsrat andere erforderliche Maßnahmen getroffen hat. Jenseits des Verteidigungsfalles muss der Sicherheitsrat nach Art. 39 feststellen, ob eine Friedensgefährdung vorliegt und ob darauf mit friedlichen (Artikel 41) oder militärischen (Artikel 42) Sanktionsmaßnahmen reagiert werden soll.
Die VN-Charta kennt auch – was kaum jemand weiß – eine sehr weitgehende Beistandspflicht (Art 43). Nach der sind alle Mitglieder der Vereinten Nationen u. a. verpflichtet, „nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen, Beistand (zu) leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts (zu) gewähren“. Da es diese Sonderabkommen nicht gibt, konnte diese Beistandspflicht bislang noch nicht in Anspruch genommen werden. Der Sicherheitsrat kann aber regionale Abmachungen, die „mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen vereinbar sind“ auch für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen (Art. 53) in Anspruch nehmen.
Auslandseinsätze werden nach wie vor vom Deutschen Bundestag entschieden, denn die EU hat keine eigenen Streitkräfte. Missionen im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die übrigens vor allem ziviler Art sind, können nur durchgeführt werden, wenn einzelne Nationalstaaten bereit sind, nationale Streitkräfte oder BeamtInnen zur Verfügung zu stellen und alle Mitgliedstaaten der EU im Ministerrat der Mission zustimmen. Im Falle Deutschlands wäre es so, dass eine deutsche Beteiligung an einem EU-Einsatz nur stattfinden kann, wenn der Bundestag dem Antrag der Bundesregierung zustimmt. Kaum ein Parlament in der EU hat so weitgehende Mitwirkungs- und Kontrollrechte bei Auslandseinsätzen, wie der Deutsche Bundestag.
Alles in allem überwiegen die positiven Aspekte des neuen Vertrages bei weitem die negativen. Natürlich hätte jedeR diesen Vertrag anders geschrieben. Aber als Vertrag, der im Wesentlichen auf den Bestimmungen des Verfassungsvertrages beruht und der von PolitikerInnen aus 28 Staaten und allen politischen Familien erarbeitet wurde, ist er ein wirklich ausgewogener Kompromiss zwischen den vielen unterschiedlichen Vorstellungen in allen Politikbereichen. Dieser neue Vertrag ist ein Meilenstein der europäischen Integrationsgeschichte und wird die Rechtsgrundlage der EU gegenüber dem derzeit geltenden Vertrag von Nizza in sehr vielen Bereichen verbessern. Deshalb unterstützen wir die Verabschiedung des Vertrages und werden uns dafür einsetzen, dass sobald wie möglich eine Einigung über die verbliebenen strittigen Punkte erreicht werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Büro Volker Beck