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Ulrich Wilken
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Frage von Ralf B. •

Frage an Ulrich Wilken von Ralf B. bezüglich Recht

Sehr geehrter Herr Dr. Wilken,

Sie haben am 25. September 2012 eine Pressemitteilung [1] mit dem Titel "Wir wollen die Verfassung schützen, deswegen müssen wir den Verfassungsschutz abschaffen" heraus-gegeben. Diese Überschrift wirkt auf eine Normalbürger erst einmal etwas paradox, da auch
niemand auf die Idee käme, die Polizei abzuschaffen um das Eigentum zu schützen. Auch ihre Behauptung der Name leite in die Irre, ist erst einmal so nicht nachvollziehbar.

Dazu nun meine zwei Fragen:
Wieso meinen Sie, den Verfassungsschutz abschaffen zu müssen, "nur" weil er beispielsweise im Fall N.S.U. schlampig gearbeitet hat, denn keiner käme auf die Idee eine schlampig arbeitende Polizei abzuschaffen ?
Ist Ihre Forderung nicht etwas überzogen ?

mit freundlichen Grüßen

[1] http://www.linksfraktion-hessen.de/cms/abgeordnete/die-abgeordneten/dr-ulrich-wilken/pressemitteilungen/3440-die-linke-wir-wollen-die-verfassung-schuetzen-deswegen-muessen-wir-den-verfassungsschutz-abschaffen.html

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Antwort von
DIE LINKE

Sehr geehrter Herr Bertram,

aus historischer und demokratischer Verantwortung, sowie als Konsequenz aus dem skandalösen Scheitern der Geheimdienste in der jüngsten Vergangenheit sind eine Neuorganisation des Schutzes der Verfassung und der Verwirklichung verfassungsrechtlicher Grundrechte als gesamtgesellschaftliche Aufgabe im Sinne des Artikels 146 der Hessischen Verfassung dringend geboten.

Der Verfassungsschutz hat wie so manche andere deutsche Institution braune und staatsautoritäre Wurzeln. Für Entwicklung und Arbeit dieses Geheimdienstes war das prägend. Erinnert sei etwa an die exzessive Kommunistenverfolgung der 50er und 60er Jahre, als nicht nur Verfassungsschutz und Polizei, sondern auch die Justiz mit ihren personellen "Altlasten", etwa das Lüneburger Landgericht, eine unsägliche Rolle spielten.

Der als Inlandsgeheimdienst organisierte Verfassungsschutz ist ein Fremdkörper in der Demokratie. Das Wort Verfassungsschutz führt denn auch in die Irre. Es ist nicht seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Grundrechte wie das auf freie Meinungsäußerung oder die Versammlungsfreiheit unberührt bleiben. Im Gegenteil, mit der Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel - beschatten, belauschen, bespitzeln - greift er gerade in diese Rechte ein.

Die Institutionalisierung des Verfassungsschutzes als ein nach innen gerichteter Nachrichtendienst muss als gescheitert angesehen werden. Die erhoffte Funktion eines Frühwarnsystems, das über Bestrebungen gegen die in Grundgesetz und Hessischer Verfassung verankerten Grund- und Menschenrechte rechtzeitig informiert, hat versagt. Trotz teilweise intensiver (Zusammen-) Arbeit im neonazistischen Milieu konnten in den vergangenen zwei Jahrzehnten hunderte Mordfälle und ein Vielfaches davon an Straftaten mit rechtsextremem Hintergrund in der Bundesrepublik Deutschland präventiv nicht verhindert oder häufig im Nachhinein nicht aufgeklärt werden.
Das Auffliegen der Terrorzelle NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), die jahrelang ungehindert Morde, Bombenanschläge und Banküberfälle mit Dutzenden Opfern begehen konnte, macht die Dimension des Scheiterns deutlich: Statt erfolgreicher Gewaltprävention und dem Schutz der Demokratie haben sich die Geheimdienste jahrelang zwischen Blindheit gegenüber und Verstrickung mit der rechten Szene bewegt. Dem Aufklärungsinteresse von Parlamenten und Öffentlichkeit wurde mit Vernichtung entsprechender Akten begegnet. Ein für die Gewaltprävention unfähiger und erst recht ein mit der rechten Szene verwobener Geheimdienst wird für die Gesellschaft und Demokratie selbst zur Gefahr, zumal er sich offenkundig jeglicher demokratischen Kontrolle entzieht. Das Verhalten des Geheimdienstes beim NSU-Mord in Kassel, bei dem der Schutz eines tatverdächtigen Geheimdienstmitarbeiters und seiner kriminellen Nazi-V-Leute über das Aufklärungsinteresse einer bundesweiten Mord- und Terrorserie gestellt wurden, ist in jeder Beziehung inakzeptabel. Es besteht dringender Handlungsbedarf, auch weil dieser unfassbare Vorgang trotz vehementer Proteste der Ermittlungsbehörden gegenüber Parlament und Öffentlichkeit jahrelang verheimlicht wurde.

Mindestens zwei Aspekte unterscheiden den Verfassungsschutz von anderen staatlichen Behörden wie etwa der Polizei und machen ihn deshalb problematisch. Zum einen wird er gegen Menschen allein aufgrund ihrer Gesinnung tätig, unabhängig von konkreten Tatbeständen. Das ist mit Blick auf die Bürgerrechte fragwürdig. Und zum anderen unterhält er Verbindungsleute in jenen Gruppen, die er für Feinde der Verfassung hält. Um diese V-Leute führen zu können, entsteht der Zwang zur Geheimhaltung. Die Spitzel sind ein kaum zu überwindendes Hindernis bei jeder noch so gut gemeinten Reform der Dienste. Selbst wenn die Ämter den Geist des Kalten Krieges überwinden, die Verfassungsschützer angemessen ausbilden, ihre Fähigkeit zur Analyse verbessern, selbst wenn ihre Präsidenten sich nicht mehr als unangreifbare Autokraten gebärden: Sie bleiben ein Problem, so lange sie Menschen bezahlen, die Angst vor Enttarnung haben müssen.

Als Geheimdienst widerspricht der Verfassungsschutz den demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit. Wäre er transparent, könnte er nicht im Geheimen arbeiten. Daraus resultiert eine mangelhafte Kontrolle, wie die Arbeit der eigens eingerichteten parlamentarischen Kontrollgremien eindrucksvoll belegt.

Die Verfassungsschutzbehörden sind Teil des Systems Rechtsextremismus - und damit "Teil des Problems". Seit den 90er Jahren verstrickt sich der Verfassungsschutz mit seinen V-Leuten in Neonazi-Szenen - eine Problematik, die das NPD-Verbotsverfahren zum Scheitern brachte. Über die V-Leute ist der Staat in die Neonazigruppen verstrickt, die ihn bekämpfen. Die Spitzel bekommen Honorare, die sie trotz Verbot auch in ihre Organisationen stecken. Solange der Verfassungsschutz V-Leute einsetzt, das bestätigte auch das gescheiterte NPD-Verbotsverfahren, so lange ist er nicht kontrollierbar. V-Leute sind keine ´Agenten´ des demokratischen Rechtsstaates, sondern im Falle von Neonazis zumeist Rassisten und Gewalttäter. Brandstiftung, Körperverletzung, Mordaufrufe, Waffenhandel - das sind nur einige der Straftaten, die solche Leute zum Schutz ihrer Tarnung begehen. Vom Verfassungsschutz bezahlte V-Leute machen sich in diesen Szenen regelmäßig strafbar, werden aber vom Verfassungsschutz gegen Ermittlungen der Polizei abgeschirmt. All dies ist in einer Demokratie inakzeptabel. Der Inlandsgeheimdienst ist durch das V-Leute-System in kriminelle Machenschaften verstrickt und ist damit selbst Teil des Neonazi-Problems geworden.
Das System der Anwerbung von V-Leuten aus der neonazistischen und neofaschistischen Szene, unterstützt eben diese Szene finanziell und stärkt sie. Gleichzeitig geraten Bürgerrechte, die Freiheit, die Demokratie und der Rechtsstaat in Gefahr.

Der nachrichtendienstlich befugte institutionalisierte Verfassungsschutz ist eine Gefahr für eine den Grund- und Menschenrechten verpflichtete Gesellschaft. Demokratie setzt Offenheit, Beteiligung und Transparenz voraus. Die Ausdehnung des Geheimdienstapparates besonders seit dem 11. September 2001 mit immer weiteren Kompetenzen durch Sicherheitsgesetze, Aufgabenzuweisungen sowie Sach- und Personalmitteln, steht im Konflikt mit dieser demokratischen Offenheit, Beteiligung und Transparenz. Die erheblichen Grundrechtseingriffe, die in der Regel politisch-ideologisch motiviert sind, orientieren sich an der verheerenden Logik der Totalitarismustheorie. All jene, welche ausgerichtet am politischen Raster des Verfassungsschutzes als "verfassungsfeindlich" gelten, erleiden erhebliche Eingriffe in Grundrechte durch den Einsatz von Spitzeln oder technische Möglichkeiten der Ausforschung und Ausspähung ihres privaten Lebens. Dabei ist, anders als bei Maßnahmen der Strafverfolgung auf Grundlage der Strafprozessordnung, kein gesetzlich klar definierter tatsächlicher Anhaltspunkt der Gefahr des Begehens einer Straftat von erheblicher Bedeutung notwendig. In der Regel erfahren Betroffene weder vom Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel noch vom Bestehen und Umfang der vom Landesamt für Verfassungsschutz angelegten personenbezogenen Daten- und Informationssätze.
Zudem ist der Geheimdienst - anders als die Polizei - weder parlamentarisch noch öffentlich kontrollierbar, weil er sich selbst der parlamentarischen Kontrolle entzieht, insofern er selbst darüber entscheidet, welche Informationen dem parlamentarischen Kontrollorgan übermittelt werden oder welche Vorgänge trotz parlamentarischen Aufklärungsinteresses vernichtet werden. Überdies sind die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission selbst der Geheimhaltung unterworfen, so dass aus der Kontrolle und gegebenenfalls erlangten Informationen keine weiteren Handlungsmaßnahmen beispielsweise durch das Parlament eingeleitet werden können. Die Sitzungen der Parlamentarischen Kontrollkommissionen, sind so geheim, dass die Abgeordneten - Beispiel Hessen - nicht einmal sagen dürfen, wann sie tagt. Protokolle werden nicht geführt. Wenn ein Innenminister behauptet, die Kommission sei informiert gewesen, kann sie es nicht widerlegen. Ohnehin dürfen die Parlamentarier nicht öffentlich über die Inhalte der Sitzungen sprechen.
Die Kontrolle der Haushaltsmittel des Landesamtes für Verfassungsschutz, die dieses für nachrichtendienstliche Mittel aufwendet, unterliegt ebenfalls der Geheimhaltung und wird noch nicht einmal der Parlamentarischen Kontrollkommission zugänglich gemacht.

Wenn sich jemand juristisch mit dem Verfassungsschutz anlegt, muss er erzwingen, dass als vertraulich eingestufte Akten im Gerichtsverfahren verwendet werden dürfen. Über die Freigabe entscheidet ein Richter in geheimer Verhandlung, ohne einen Vertreter des Klägers. Ein rechtsstaatliches Verfahren sieht anders aus.

Auch eine öffentliche Kontrolle ist ausgeschlossen, weil auch gegenüber den Medien die Geheimdienste ein Informationsmonopol besitzen. Es kann nur berichtet werden, was Geheimdienste ausgesuchte Journalisten berichten lassen. Der der Öffentlichkeit jährlich vorgelegte Bericht der Geheimdienste enthält politische Stereotype und - aber keinesfalls vollständig - längst bekannte Informationen über vorhandene Organisationen. Eine wissenschaftlich-analytische Arbeit findet im Landesamt nicht statt.

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts sollte Zweifel an der These wecken, wonach ein Mehr an Geheimdiensten auch ein Mehr an demokratischer Verfasstheit bedeutet. Das Konzept vom wehrhaften Staat ist eine Lehre aus der deutschen Geschichte. Nie wieder soll eine Bewegung die Macht erlangen, deren Ziel die Abschaffung jener Demokratie ist, die sie überhaupt erst zur Geltung kommen lassen hat. Aber braucht es dafür Spione, die die eigene Bevölkerung im Auge behalten?
Die Demokratie ist nur dann stark, wenn sie durch die Macht ihres Beispiels überzeugt und nicht durch das Beispiel ihrer Macht. Im emanzipatorischen Geist der Aufklärung müssen Menschen zum Nachdenken befähigt und ermutigt werden, statt ihnen vorzuschreiben, was sie nicht zu denken haben. Auf Angriffe gegen die Demokratie müssen Demokratinnen und Demokraten mit mehr Freiheit, mit mehr Partizipation und mehr Transparenz reagieren.

Aus dem vorstehend geschilderten ergibt sich, dass die Forderung nach einer Abschaffung des als Geheimdienst organisierten Verfassungsschutzes nicht überzogen sondern vielmehr zwingend notwendig ist.

Ulrich Wilken