Frage an Ulla Schmidt von Marlin F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Schmidt,
ich habe in letzter Zeit einige Debatten im Bundestag verfolgt. Dabei ist mir immer wieder die Ineffizienz aufgefallen, mit denen die dortigen Gespräche geführt werden.
Um es mal ganz klar zu sagen: nicht selten habe ich den Eindruck, dass sich da ein einziger großer Kindergarten zusammengefunden hat. Die Diskussionen driften immer wieder von den inhaltlich wichtigen Themen ab und es entbrennt ein hitziger, vollkommen unprofessioneller Streit. Nicht selten besteht ein großer Anteil der Reden aus einer idiotischen Selbstbeweihräucherung der eigenen Position ("Wir haben ja schon vor Jahren gesagt, dass....!"), gefolgt von sinnlosen Schuldzuweisung an die anderen Parteien.
Dabei haben die Debatten am Ende scheinbar ohnehin keinen Einfluss auf die Entscheidungen der Abgeordneten, da die Parteien offenbar schon im voraus ihre Entscheidungen getroffen haben und geschlossen abstimmen. Sind die Debatten also nur reine Publicity, und die Entscheidungen werden nur offiziell dort bekannt gegeben, aber tatsächlich hinter verschlossenen Türen getroffen?
Ich mache mir vor diesem Hintergrund ernsthafte Sorgen um unsere Demokratie. In Zeiten der Wirtschaftskrise kann man doch den Menschen nicht so einen Kindergarten vorsetzen - damit treibt man sie unweigerlich in die Richtung der Extremisten, die unsere freiheitliche Grundordnung abschaffen wollen.
Es interessiert doch wirklich *niemanden*, wie toll sich jede Partei jeweils selbst findet! Das geht jetzt auch nicht persönlich an Sie, aber die SPD legt dieses Verhalten genauso an den Tag wie alle anderen Parteien im Bundestag. Warum läuft es so, warum halten Sie sich damit auf? Warum arbeiten die Parteien nicht konstruktiv im Bundestag an den Vorschlägen, anstatt sich gegenseitig in der Luft zu zerreißen? Denken Sie, irgendein Bürger ist an einem solchen Verhalten interessiert?
Sehr geehrter Herr Frickenschmidt,
ich freue mich über Ihr Interesse an den Debatten im Deutschen Bundestag, halte jedoch Ihre Kritik für deutlich überzogen. Was Sie so negativ darstellen, klingt für mich eher nach lebendigem Parlamentarismus. Da schießt der eine oder andere Abgeordnete je nach Temperament auch schon einmal über das Ziel hinaus. Wo, wenn nicht im Parlament, sollen denn die Bürgerinnen und Bürger über die unterschiedlichen Positionen der Fraktionen, über die Verantwortung der handelnden politischen Akteure informiert, wo soll der politische Gegner denn kritisiert werden, wenn nicht im Rahmen öffentlicher Fernsehdebatten? Wenn Abgeordnete mit Leidenschaft für Mehrheiten bei einer wichtigen Entscheidung gekämpft haben, warum sollen sie nicht öffentlich deutlich machen, wer sich aus sachfremden und parteitaktischen Gründen dieser oder jener Entscheidung verweigert? Auch ich kritisiere zuweilen hart den politischen Gegner und muss harte Kritik einstecken. Die politische Gegnerschaft darf aber nie zu persönlicher Feindschaft führen.
Ein Großteil der Abgeordnetenarbeit wird nicht im Plenum des Deutschen Bundestages, sondern in den jeweiligen Facharbeitsgruppen bzw. Fachausschüssen des Bundestages geleistet. Hier findet das statt, was Sie sich für auch für die Bundestagsdebatten wünschen: Hier, in diesen vorbereitenden Beschlussgremien des Bundestages leisten die Abgeordneten die schwierige gesetzliche Detailarbeit: konstruktiv, sachorientiert und effizient. Für die Öffentlichkeit transparent wird die Ausschussarbeit durch das Instrument der "öffentlichen Anhörung", die dazu dient, wissenschaftliche Sachkunde und Kenntnisse über spezifische Probleme in die Beratungen einzuführen. Sie haben auch die Funktion, die Bürgerinnen und Bürger auf das anstehende Gesetzesvorhaben aufmerksam zu machen, also Öffentlichkeit und Transparenz herzustellen. Nach Abschluss der Ausschussarbeit werden in den jeweiligen Fraktionen die spezialisiert erarbeiteten Gesetze, Gesetzesänderungen, Initiativen, Stellungnahmen oder Vorschläge zusammengeführt, diskutiert, bewertet und schließlich abgestimmt. Damit ist die interne Willensbildung in den meisten Fällen abgeschlossen. (Deshalb spricht man auch vom Deutschen Bundestag idealtypisch eher von einem "Arbeitsparlament" – im Gegensatz zu einem "Redeparlament" wie z.B. in Großbritannien).
Dass die Entscheidungsvorbereitung wenig spektakulär, sondern vielmehr sachorientiert und konstruktiv abläuft, dann allerdings im Deutschen Bundestag im Rahmen der öffentlichen Debatten über die unterschiedlichen Positionen demokratisch gestritten wird, halte ich für eine gute Konstruktion unseres politischen Systems und mitnichten für "reine Publicity". Denn die öffentliche Rede im Parlament hat die Bürgerinnen und Bürger im Blick, vor denen sich jeder einzelne Abgeordnete verantworten und die er mehrheitlich überzeugen muss, wenn er wiedergewählt werden will.
Mit freundlichen Grüßen
Ulla Schmidt