Frage an Ulla Jelpke von Helmut E. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sind Tunesien, Algerien und Marokko sichere Herkunftsländer?
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) lehnt – wie allgemein bekannt – das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ als unvereinbar mit der Genfer Flüchtlingskonvention und einem fairen und individuellen Asylverfahren ab.
Das deutsche Grundgesetz lässt das Konzept des sicheren Herkunftsstaates jedoch unter strengen Vorgaben zu. Nach diesen Vorgaben muss sichergestellt sein, dass ein Herkunftsstaat nur dann als sicher eingestuft werden darf, wenn u. a. dort die Anwendung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nachgewiesen ist.
Für alle drei oben genannten Länder hat AI jedoch in einer Stellungnahme an den Innenausschuss dargelegt, dass die strengen Vorgaben des Grundgesetzes nicht erfüllt sind. Die wesentlichen Verstöße gegen die Vorgaben des Grundgesetzes betreffen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Folter und erniedrigende Behandlung, die sexuelle Selbstbestimmung, den fehlenden Zugang internationaler Organisationen zur Prüfung der Menschenrechtsstandards, und die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Schließen Sie sich der Bewertung von Amnesty International an und halten Sie die genannten Staaten auch nicht als sichere Herkunftsstaaten im Sinne des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts?
Sehr geehrter Herr E.,
ich teile die Auffassung von Amnesty International, wonach es sich bei den nordafrikanischen Ländern Tunesien, Marokko und Algerien keineswegs um sichere Herkunftsstaaten handelt. Davon konnte ich mich auch bei eigenen Besuchen in der Region in den letzten Jahren überzeugen.
Gerade in Marokko und Algerien sind schwere Menschenrechtsverletzungen, politische Verfolgung, Folter und selbst extralegale Tötungen verbreitet. Marokko hält völkerrechtswidrig die Westsahara besetzt, sahrauische Aktivisten werden scharf verfolgt. Kritikern des marokkanischen Königs droht willkürliche Verfolgung. In Algerien sehen sich Aktivisten, die für die Rechte der Kabylen einsetzten, politischer Verfolgung einschließlich physischer Misshandlungen in Haft ausgesetzt. Tunesien wird von einem permanenten Ausnahmezustandsregime regiert. In allen drei Ländern werden Homosexuelle verfolgt.
Asylsuchenden aus angeblich sicheren Herkunftsländern wird per se unterstellt, sie würden unrechtmäßig Asyl beantragen, per Gesetz können diese Geflüchteten dann kein unvoreingenommenes Asylverfahren mehr erhalten. Die von der Bundesregierung angestrebte Einstufung der drei nordafrikanischen Staaten als sicher ist meiner Auffassung nach rein politisch motiviert und hat nicht mit der tatsächlichen Menschenrechtssituation vor Ort zu tun. Von daher lehne ich eine solche Einstufung entschieden ab.
Mit freundlichen Grüßen,
Ulla Jelpke