Frage an Udo Bullmann von Ralf K. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Bullmann,
zunächst spreche ich Ihnen meine ehrliche Anerkennung für Ihre Mühe bei der umfassenden Beantwortung von Bürgerfragen aus.
Hiermit verbunden ist die Hoffnung, in Ihnen einen Ansprechpartner für das "leidige" Thema Abgeordnetenlegitimation zu finden, ein Punkt, den viele Ihrer Kollegen des EP wie des Bundestages zu scheuen scheinen wie der Teufel das Weihwasser.
Zum Thema:
Der Lissabon-Vertrag, eine "EU-Verfassung light und fast unleserlich" (so gewollt!), gibt, entgegen allen öffentlichen Beteuerungen unserer Politikerkaste, fundamentale nationale Rechte an EU-Institutionen ab (z.B. BVG-Zuständigkeiten, Militäreinsätze, ....).
Hierzu die Fragen:
1. Sollten derartig einschneidende Eingriffe in unsere Gesellschaft nicht von dieser mehrheitlich legitimiert werden?
Hintergrund: Die deutschen Abgeordneten des EP sind bei den letzten beiden EP-Wahlen zu 54,8% (1999) und 57% (2004) mehrheitlich durch Wahlboykott abgelehnt worden und vertreten mithin nur eine Minderheit der Wählerschaft.
2. Verlangt dieser Umstand nicht zwingend, dass wir, das Volk, hierzu erst einmal direkt unsere Zustimmung geben müssen?
In Irland, das in diesem Zusammenhang an ein berühmtes "kleines gallisches Dorf" erinnert, wurde es gemacht und scheiterte bekanntlich, ebenso wie die Referenden 2005 in Frankreich und den Niederlanden, deren Bevölkerung zusammen etwa doppelt so groß ist wie die der Ja-Sager von 2005, Spanien und Luxemburg. Jetzt werden wieder bekannte Taschenspielertricks angewandt, um den Vertrag doch noch durchzuprügeln.
3. Verwundert Sie vor diesem Hintergrund eine immer weiter wachsende EU-Verdrossenheit? Siehe aktuell: www.welt.de
4. Ab welchem Grad des Wahlboykotts würden Sie den Abgeordneten die Legitimation absprechen, das Volk zu vertreten? Sind 57% hier noch nicht ausreichend?
Die Wahlfarce in Simbabwe anerkennen wir zu recht nicht, aber wann werden wir beginnen, vor der eigenen Tür zu kehren?
Mit demokratischem Gruß
Ralf Kulikowsky
Sehr geehrter Herr Kulikowsky,
ich bedanke mich für Ihre Anfrage. Bereits im Vorfeld des irischen Referendums über den EU-Reformvertrag (Lissabon-Vertrag) hatte es immer wieder Diskussionen über eine direkte Befragung der Bürgerinnen und Bürger gegeben. An sich sind Bürgerbefragungen bei umstrittenen Entscheidungen eine gute Sache. Etwa wenn darüber abgestimmt wird, ob die neue Brücke an dieser oder jener Stelle gebaut werden soll oder auch bei grundsätzlichen Fragen der nationalen Politik. Österreich hat sich beispielsweise auf Grundlage eines Volksentscheids gegen die Nutzung der Atomenergie gewandt. Allerdings stoßen Referenden als Form der direkten Demokratie auch schnell an ihre Grenzen. So haben Demagogen (wie im Falle des irischen Referendums) leichtes Spiel wenn schwierige Sachverhalte auf Ja-Nein-Fragen reduziert werden.
Bei dem EU-Reformvertrag handelt es sich um einen 400 Seiten starken völkerrechtlichen Vertrag, der die Arbeitsweise der Europäischen Union verbessern soll. Wählerinnen und Wähler vor die Frage zu stellen "Wollt ihr den Reformvertrag oder nicht" setzt allein schon wegen der Komplexität des Vertragswerks engagierte Aufklärung und ein hohes Informationsniveau voraus. Selbst der irische EU-Binnenmarktkommissar McCreevy, ein eifriger Verfechter der Liberalisierung, hat öffentlich bekannt, den Vertrag nicht zu verstehen. Dies war nicht nur eine riesen Blamage für die EU-Kommission, sondern auch ein Bärendienst für die ohnehin eher zurückhaltend geführte Ja-Kampagne. Die Nein-Kampagne hingegen war in erster Linie von Gerüchten, Halbwissen und Desinformation geprägt. Zu den kuriosesten Behauptungen zählt sicher, dass die EU-Kommission demnächst eine Ein-Kind-Politik nach chinesischem Vorbild verordnen würde. Außerdem müsse Irland an Militäreinsätzen der EU teilnehmen sowie Prostitution und Abtreibung legalisieren. Nichts davon ist wahr.
Die irischen Neinsager hatten keine Konsequenzen zu fürchten. Wie wäre das Referendum wohl ausgegangen, wenn die Alternative gelautet hätte "Wollt ihr den Reformvertrag oder den Austritt aus der Europäischen Union"? In diesem Fall hätte ein Nein zum Verlust aller Vorteile geführt, die mit der EU-Mitgliedschaft verbunden sind. So aber müssen die übrigen 26 EU-Mitgliedstaaten die Konsequenzen des irischen Votums tragen, denn die so dringend benötigten Reformen liegen auf Eis.
Dass die EU großen Reformbedarf hat, steht außer Zweifel. Das irische Referendum selbst ist ein Beleg dafür. 1,4 Millionen Iren haben über das zukünftige Erscheinungsbild der Europäischen Union mit rund 495 Millionen Einwohnern entschieden. Die Wahlbeteiligung lag gerade mal bei 53 Prozent. Rund 860.000 Iren sprachen sich gegen den Reformvertrag aus. Zweifel am Verfahren sind daher mehr als berechtigt, schließlich haben 18 EU-Mitgliedstaaten den Lissabon-Vertrag bereits ratifiziert. Sie wollen eine demokratischere, transparentere und effektivere Europäische Union. Nur so kann Europa im Zeitalter der Globalisierung bestehen. Mit ihrem Nein erreichen die Vertragsgegner nun genau das Gegenteil davon. Wichtig ist, dass der Ratifizierungsprozess jetzt nicht ins Stocken gerät. Wenn die übrigen 26 EU-Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben, liegt der Ball wieder im Spielfeld der Iren. Sie müssen Lösungswege für die Krise aufzeigen und sagen, welche Rolle sie künftig in Europa spielen wollen.
An der von Ihnen zu Recht angesprochenen "EU-Verdrossenheit" sind nicht zu letzt die EU-Mitgliedstaaten schuld. Sie sitzen in Brüssel mit am Tisch und handeln neue Gesetze und Verträge aus, ohne sie dann den Bürgerinnen und Bürgern daheim zu vermitteln. Positive Ergebnisse werden kurzerhand als eigene Leistung dargestellt, während die EU für alle als negativ empfundenen Entwicklungen gerade stehen soll. So kann die Politik die Menschen nicht für Europa begeistern.
Im Juni 2009 sind Europawahlen. Kurz darauf wird die neue Europäische Kommission bestimmt. Es ist an den Wählerinnen und Wählern zu entscheiden, welchen Kurs die EU einschlägt. Wer denkt, die Europawahl sei nicht wichtig, verkennt die politische Realität. Inzwischen werden bereits 60 bis 80 Prozent der nationalen Gesetzgebung direkt oder indirekt von der europäischen Gesetzgebung beeinflusst. Ein starkes Europäisches Parlament als direkt gewählte Volksvertretung, die mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages noch an Einfluss gewinnt, ist daher unverzichtbar.
Wer die Europawahlen boykottiert oder sie zur Protestwahl erklärt, spielt letztlich denjenigen in die Hände, die Europa auf einen Binnenmarkt ohne die nötigen sozialen Komponenten reduzieren wollen. Wer das soziale Europa fordert, wer mehr Demokratie und Transparenz anmahnt, der muss abstimmen und zwar mit dem Stift und nicht mit den Füßen. In Europa haben wir tatsächlich die freie Wahl, das ist einer der wichtigsten Unterschiede zum Fall Simbabwe.
Mit freundlichen Grüßen
Udo Bullmann