Frage an Tobias Pflüger von Dietrich B. bezüglich Verbraucherschutz
Sehr geehrter Herr Pflüger,
angesichts einiger aktueller Entwicklungen (Irland, Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann) habe ich zwei Fragen(komplexe) an Sie und die EU-Kandidaten der LINKEn:
(1)
Wie positionieren Sie sich angesichtes des widersprüchlichen Verhältnisses von Mehrheit und Richtigkeit (über das sich wohl zu philosophieren lohnt) zu Volksentscheiden in der EU?.
(Negativ(st)es Beispiel: Auch die NSDAP hat - unter unterstützter und strategischer Schaffung der dafür notwendigen Voraussetzungen - einmal eine Mehrheit im Deutschen Reich gehabt …)
Halten Sie es für richtig, in Irland einen zweiten Volksentscheid zum Lissabon-Vertrag durchzuführen (und nach einem zweiten evtl. einen dritten ...)?
(2)
Einstimmigkeitsentscheidungen kamen in der Verblichenen (DDR) u.a. deshalb zustande, weil - oft auch indirekt - gefragt wurde:
Stimmst Du damit ODER damit ODER damit ODER … überein?
Wenn ja (wenn Du also auch nur einem der Punkte zustimmst), dann kannst Du auch insgesamt zustimmen. (Ausdruck dafür ist u.a. die berühmt-berüchtigte Frage: Bist Du für den Frieden? Heute spricht man dann wohl von einem "Schritt in die richtige Richtung" und verdrängt das Krötenschlucken.)
Richtigerweise hätte es wohl heißen müssen:
Bist Du damit UND damit UND damit UND … einverstanden, dann stimme zu. Wobei die einzelnen Punkte, im Gegensatz zur ODER-Frage, nicht gleichgewichtet sind und die "weniger wichtigen" - im Sinne notwendiger Kompromisse - zur Diskussion stehen können.
Angesichts der Pauschalschelte von Frau Dr. K. nach dieser längeren Vorrede die Fragen:
Welches wird Ihr Maßstab sein, Entwürfen zuzustimmen oder sie abzulehnen?
Gibt es für Sie nicht verhandelbare K.O.-Kriterien ("Essentials"); welche Kröten werden Sie keinesfalls schlucken?
Welches Ihrer Essentials hat Frau Dr. K. mit Ihrer Befürwortung des Lissabon-Vertrages verletzt?
Was halten Sie in diesem Zusammenhang von "Fraktionszwang" bzw. "Fraktionsdisziplin"?
Vielen Dank im voraus für eine Antwort (bis 06.06.2009) und
beste Grüße
Dietrich Bicher
Sehr geehrter Herr Bicher,
Vielen Dank für Ihre Mail.
Zu Ihren Fragen:
(1)
Ich kämpfe für eine demokratische EU mit transparenten Entscheidungsprozessen. Mehr Elemente der direkten Demokratie scheinen mir für die nationalstaatliche und auch die EU-Ebene von großer Wichtigkeit.
Durch die "Abgehobenheit" der EU-Organe stellt sich bei den Bürgerinnen und Bürgern leicht die Ansicht ein, die EU sei undemokratisch. Natürlich teilweise auch zu Recht:
Die einzige Möglichkeit für Bürgerinnen und Bürger, auf EU-Politik direkt Einfluss zu nehmen, ist die Wahl der Abgeordneten für das Europäische Parlament. Die gewählten Abgeordneten haben aber vergleichsweise wenige Kompetenzen; die meisten Entscheidungen in der EU treffen die Staatschefs im Rat und die Beamten in der Kommission. Bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten und der Kommissare kann das Parlament nur im Nachhinein mit 2/3-Mehrheit die Ernannten ablehnen. Außerdem kann das Parlament nur reagieren, es hat kein Initiativrecht. Man muss kein Linker sein, um diese und andere Regelungen für nicht demokratisch zu halten.
Entgegen der Aussagen der anderen Parteien würde sich auch durch den Lissabonvertrag keine weitere Demokratisierung einstellen. So bekommt das Europäische Parlament beispielsweise auch durch die Umsetzung des Lissabonvertrags kein Initiativrecht.
Hier würden Elemente der direkten Demokratie wichtige Leerstellen füllen. Man denke nur an die Möglichkeit einer europäischen Volksinitiative. Menschen aus verschiedenen Ländern könnten hier an einem Projekt zusammenarbeiten. Das würde auch die Vernetzung der europäischen Bewegungen fördern. Volksabstimmungen über Grundsatzentscheidungen wären ebenfalls sinnvoll. Vor allem wenn es, wie beim Lissabonvertrag, um die Schaffung und den Ausbau eines europäischen politischen Systems geht, sollte eine europäische Volksabstimmung über dieses Verfassungsäquivalent eigentlich selbstverständlich sein.
Übrigens: Die NSDAP hat für Ihren Aufstieg niemals Elemente der Direkten Demokratie verwendet. Sie hat in der Weimarer Republik eine einzige große Volksabstimmung mit unterstützt und fiel dabei trotz medialer Unterstützung durch den deutschnationalen Medienzar Hugenberg mit knapp 14 % durch. Auch das Thema hätte sich populistisch geeignet: Es ging um die Aussetzung der Reparationszahlungen. An die Macht gebracht wurde die NSDAP formal durch den Reichspräsidenten Hindenburg, sowie über parlamentarische Entscheidungen, wie das "Ermächtigungsgesetz". Bürgerliche Politiker, wie z.B. der Liberale Theodor Heuss, die selbst dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt haben, verleumdeten in der neugegründeten Bundesrepublik Elemente der direkten Demokratie als "Prämie für jeden Populisten". Als Zeitzeugen hatten sie leider einen besonderen Einfluss auf die Geschichtsanalyse. Dabei ging es Ihnen vorrangig um Selbstentlastung und Verhinderung einer weitreichenden gesellschaftlichen Demokratisierung.
Nach der irischen Verfassung muss eine derart tiefgreifende Veränderung wie der Lissaboner Vertrag in Irland durch eine Volksabstimmung legitimiert werden. Eine Gesetzgebung in diesem Sinne würde ich mir für alle europäischen Länder wünschen, dass solch ein weitreichender Vertrag wirklich auch vom Souverän in einer Demokratie abgestimmt wird. Diese Abstimmung nun aber solange zu wiederholen, bis sie das Ergebnis herbeiführt, dass die Eliten haben möchten, ist eine antidemokratische Zurückweisung des ersten Abstimmungsergebnisses. Es herrscht auch keine demokratische Chancengleichheit bei weiteren Abstimmungen. So weiß ich von irischen Freunden, die in der emanzipatorischen Anti-Lissabon-Kampagne mitarbeiten, dass man für jede neue Abstimmung Geld und sehr viel Kraft braucht, um gegen die Pro-Lissabon-Maschinerie der Regierung anzukämpfen. Das schafft man nicht innerhalb kürzerer Zeiträume immer wieder.
Das demokratische Votum der irischen Bevölkerung muss respektiert werden: Nein heißt Nein!
(2)
Meine "Essentials" sind Soziales und Frieden - Krieg darf niemals ein Mittel der Politik sein. Ich bin für einen Politikwechsel in Europa. Ich will eine andere und bessere EU, die friedlich, sozial, demokratisch und ökologisch ist. Deshalb bekräftige ich mein Nein zum Vertrag von Lissabon. Nicht verhandelbare K.O.-Kriterien im Lissabon-Vertrag sind die neoliberale Ausrichtung der EU-Wirtschaftspolitik und die Militarisierung der EU, die der Vertrag festschreiben würde. Ich möchte beispielsweise kein Herkunftslandprinzip oder andere neoliberale Reformen, wie sie die Dienstleistungsrichtlinie vorsieht. Sobald militärische Strukturen wie die Battle Groups der EU vorhanden sind, werden sie auch irgendwann eingesetzt. Damit hat Sylvia-Yvonne Kaufmann mit ihrer Unterstützung des Lissabonvertrags zwei meiner Essentials verletzt.
Von Fraktionszwang halte ich gar nichts, denn jeder Abgeordnete sollte seinem Gewissen verpflichtet sein. Auch Fraktionsdisziplin sehe ich nicht uneingeschränkt positiv. Grundsätzlich bin ich inhaltsloyal: Den politischen Grundsätzen, für die ich gewählt bin, bleibe ich treu.
Sylvia-Yvonne Kaufmann hatte das vor der Wahl 2004 im Europawahlprogramm der damaligen PDS formulierte Nein zum EU-Verfassungsvertrag akzeptiert und in ihrer Bewerbungsrede wiedergegeben. Somit war sie damals auf dieser programmatischen Grundlage gewählt. Dennoch hat sie sich, seit einen Tag nach der Wahl, wieder für den EU-Verfassungsvertrag eingesetzt - ungeachtet der Tatsache, dass der EU-Verfassungsvertrag und der Lissabon-Vertrag die Entwicklung der EU hin zu einer neoliberalen Militärunion festschreiben würden. Im jetzigen Programm zur Europawahl 2009 hat sich die LINKE klar gegen diesen Lissabon Vertrag ausgesprochen.
Mit besten Grüßen,
Tobias Pflüger