Frage an Ties Rabe von Manfred B. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Rabe,
unabhängig davon, wie die Verhandlungen zwischen der Initiative und der Schulbehörde ausgehen werden, dürfte das Elternwahlrecht nach Klasse 6 beschlossene Sache sein. Daraus ergeben sich für mich folgende Fragen:
- Wie soll nach Ihrer Meinung bzw. nach SPD-Vorstellungen mit Schülerinnen und Schülern umgegangen werden, die den Anforderungen dann am Gymnasium nicht genügen?
- Sollen sie dort verbleiben bis zur Jahrgangsstufe 10 oder zwangsweise umgeschult werden zur Stadtteilschule?
- Falls sie am Gymnasium bleiben sollen: wie sollen sie dort unterrichtet werden (eigene Klassen?)?
- Falls sie umgeschult werden sollen: wann soll das nach welchen Kriterien geschehen?, wer trifft die Entscheidung?
- An welche Schulen werden sie umgeschult (freie Schulwahl)?
- Sollen an den Stadtteilschulen Plätze für solche "downgegradeten" Schüler freigehalten werden oder dürfen gegebenenfalls die Maximalfrequenzen überschritten werden?
- wenn Plätze freigehalten werden, bedeutet das für die Schulen dann weniger Ressourcenzuweisung?
Ich merke gerade, dass sich aus den jeweiligen Antworten wieder jeweils neue Fragen ergeben und kann nicht umhin, Ihnen meinen Ärger darüber mitzuteilen, dass in der Öffentlichkeit außer dem peinlichen Auftritt Ihrer Genossin Ernst und Ihren gelegentlichen Kommentaren in den Zeitungen von der SPD zum Thema nichts zu hören ist. Dabei dürfte sie doch die Partei sein, die in der nächsten Wahlperiode die Schulreform weiterführen muß. In Erwartung, dass Sie mir trotzdem meine Fragen beantworten, verbleibe ich
mit freundlichen Grüßen
Manfred Buhr
Sehr geehrter Herr Buhr,
vielen Dank für Ihr Schreiben, auf das ich gern antworten möchte.
Sie sehen offensichtlich den Erhalt des Elternwahlrechts kritisch. Sie haben unseren öffentlichen Erklärungen dazu sicherlich entnommen, dass sich die SPD für den Erhalt des Elternwahlrechtes und für den Erhalt der Grundschule bis Klasse 4 einsetzt. Insofern will ich vorab deutlich machen, dass die SPD kein Modell für ein "neues Elternwahlrecht" im Zusammenhang mit der Primarschule entwickeln muss, weil die SPD die Primarschule nicht einführen wollte und will.
Wenn es nach uns ging, würde sich die Schulpolitik endlich um die 25 Prozent Schüler eines jeden Jahrgangs kümmern, die derzeit im Hamburger Schulsystem chancenlos bleiben. Dazu brauchen wir Ganztagsschulen, Förderprogramme (Sprachförderung), deutlich mehr frühkindliche Bildung vor der Schulzeit, kleinere Klassen, besseren Unterricht und bessere Lehrer - vor allem in den sozialen Brennpunkten. Wenn die allermeisten "Sorgenkinder" unseres Schulsystems in drei von 22 Schulregionen zu Hause sind (nämlich in Wilhelmsburg, Billstedt/Horn und Lurup/Osdorf), dann erschließt es sich mir nicht, inwiefern der Millionen-teure Umbau aller Schulen von Blankenese über Winterhude bis in die Walddörfer den hilfsbedürftigen Kindern von Billstedt nützen soll. Insofern muss die SPD zurzeit dem Senat keine Ideen anbieten, Auswege für die Probleme bei der Einführung eines von der SPD abgelehnten neuen Schulsystems weisen.
Dennoch will ich mich nicht wegmogeln und Ihnen offen antworten. Wenn die Primarschule kommt, dann muss das Elternwahlrecht nach Klasse 6 einhergehen mit einer Probezeit auf dem Gymnasium. Wie lang diese Probezeit sein soll, muss man sorgfältig abwägen, Fachleute diskutieren Zeiten zwischen einem halben und einem Jahr. Am Ende einer solchen Probezeit entscheidet dann - wie bisher - die Lehrerkonferenz über die weitere Perspektive des Schülers. Und wie bisher werden dann einige Schülerinnen und Schüler die weiterführende Schule wechseln. Aufnehmende Schule ist dann jede Stadtteilschule.
Wenn Sie jetzt entgegnen, dass diese Abschulung mit Tränen und Ärger verbunden ist, schwer zu organisieren ist und eigentlich vermieden werden müsste, dann gebe ich Ihnen Recht. Ja, eine solche Abschulung ist die bittere Kehrseite der Medaille "Elternwahlrecht", das darf man nicht schönreden, wenn man ehrlich Politik machen und Chancen und Risiken seriös gegeneinander abwägen will.
Maßgeblich für unser Festhalten am Elternwahlrecht sind mehrere Argumente, die die Chancen des Elternwahlrechts deutlich machen:
1. Sämtliche bisher in Deutschland ausprobierte Verfahren, die langfristigen Leistungsmöglichkeiten von Schülern (vor ihrer Pubertät) bis zum Ende der Schulzeit vorherzusagen, funktionieren nicht. Kurz gesagt: Es gibt kein sicheres Prognoseverfahren. Es wird auch niemals eines geben. Wissenschaftliche Untersuchungen sagen: Eine einigermaßen sichere Prognose ist höchsten für die 20% Leistungsstärksten und die 20% Leistungsschwächsten eines Jahrgangs möglich, für die 60% "dazwischen" ist jede Prognose so sicher wie die Wettervorhersage für das nächste Jahr. Für diese 60 % ist jede Elternwahl genauso sicher oder unsicher wie das Urteil der Fachleute an den Schulen.
2. Mit dem Schulwechsel wird über den weiteren Bildungsweg maßgeblich entschieden. Eine Entscheidung von solcher Tragweite sollte man dann auch denen überlasse, die davon unmittelbar betroffen sind. Sie müssen diese Entscheidung "ertragen", und da ist es allemal sinnvoller, sie an dieser Entscheidung auch zu beteiligen.
3. In Hamburg - das zeigen Zahlen, die ich im Rahmen von Anfragen an den Senat ermittelt habe - besuchen 20 Prozent das Gymnasium, obwohl sie keine Gymnasialempfehlung bekommen haben. Es sind übrigens vor allem Eltern in den sozial benachteiligten Stadtteilen, die sich auf diese Weise über das Elternwahlrecht einen Platz für ihre Kinder am Gymnasium erkämpfen. Wer nun glaubt, dass die Eltern einen schweren Fehler machen und diese Kinder auf kurz oder lang am Gymnasium scheitern, der irrt sich. Tatsächlich schaffen vermutlich - das legen die Zahlen nahe - mehr als dreivierte von Ihnen die Versetzung in die siebte Klasse, und deutlich mehr als die Hälfte schafft am Gymnasium auch das Abitur. Berücksichtigt man, dass auch von den Kindern mit Gymnasialempfehlung wohl nur 80 Prozent das Abitur am Gymnasium macht, sind die "nicht empfohlenen" Kinder erstaunlich erfolgreich.
4. Schule ist stärker als die meisten anderen öffentlichen Einrichtungen eine "Zwangsveranstaltung", die in hohem Maße in die Erziehung und die Lebensgestaltung von Kindern und Familie eingreift. In unserer Gesellschaft ist eine solche Einrichtung in besonderem Maße auf die Akzeptanz der Eltern und Kinder angewiesen. Wenn Kinder und Eltern, Lehrer und Schulleitung, aber auch Omas und Verwandte sowie die Gesellschaft insgesamt die Schule als Einrichtung grundsätzlich in Zweifel ziehen, dann ist die Schule am Ende. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Schule ist mehr als nur PR, sie ist absolut notwendig, wenn die Schule funktionieren soll. Wenn die Menschen die staatliche Schule "nicht mehr gut und wichtig finden", dann wird Schule scheitern, und sei sie tatsächlich noch so gut. In unserem Staat ist es ein Grundprinzip, Akzeptanz durch Beteiligung zu sichern. Wer mitmachen und mitbestimmen kann, der tritt auch für das ein, was er gewählt und entschieden hat. Dieses Prinzip unserer Demokratie liegt auch dem Elternwahlrecht zugrunde. Ich glaube, dass es sich engagierte Eltern schlicht nicht bieten lassen würden, wenn ihre Kinder mit waghalsigen Prognose zwangsweise auf Schulen geschickt werden, die die Eltern (und Kinder) nicht wollen. Ein solches Verfahren wird als Bevormundung erlebt werden und die Akzeptanz des staatlichen Schulsystems auf Dauer erschüttern. Das kann niemand wollen.
Das alles sind Argumente, die man prüfen muss. Die Tränen der gescheiterten Schüler kenne ich aus familiärer Erfahrung nur zu gut - aber als Lehrer und Politiker sehe ich auch die andere Seite des Elternwahlrechts und die Gefahren, die entstehen, wenn Schule so tut, als ob sie alles besser weiß und die Eltern bevormunden kann.
Diese Dinge gilt es zu wägen. Wenn Sie nach gründlicher Abwägung zu einem anderen Urteil kommen, dann ist das Ihr gutes Recht. Für uns hat die Abwägung ein klares Ergebnis gebracht, deshalb streiten wir für das Elternwahlrecht. Dabei sind wir vermutlich nicht allein.
Herzliche Grüße
Ties Rabe