Frage an Thomas Strobl von Andreas S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Strobl!
Die Antwort auf die Frage von Herrn Kossatz zum verfassungswidrigen Wahlrecht, die Sie zunächst übersehen haben und deshalb nur noch auf nochmalige Aufforderung beantworten wollen, interessiert mich nach wie vor.
Ergänzend würde ich gern wissen, wie sich Ihre Ablehnung des Gesetzentwurfs der Grünen vor dem Hintergrund erklärt, dass wir gegenwärtig eine Situation haben, in der es denkbar erscheint, dass Überhangmandate an sich verfassungswidrig werden, weil sie das vom Bundesverfassungsgericht tolerierte Maß überschreiten. Allein deshalb hätte der Bundestag eigentlich tätig werden müssen, und die von Ihrer Fraktion erwogene Alternativlösung (unverbundene Landeslisten) würde an der potenziellen Verfassungswidrigkeit in dieser Beziehung nichts ändern.
Ich halte den Gesetzentwurf der Grünen auch für suboptimal (ich würde eine Lösung durch Nichtvergabe von Mandaten in den schwächsten Wahlkreisen (womöglich definiert durch die Wahlbeteiligung, da ja der Verlust der Vertretung eher den gesamten Wahlkreis als den Kandidaten betrifft) bevorzugen), aber was hätte ernsthaft dagegen gesprochen, mit diesem Vorschlag, der momentan am ehesten konsensfähig ist, heuer eine verfassungsgemäße Wahl zu gewährleisten, und eine auf Dauer angelegte Reform des Wahlrechts im nächsten Bundestag anzugreifen?
Sehr geehrter Herr Schneider,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage zum Thema „Bürgerrechte und Demokratie“. Gerne will ich sie Ihnen beantworten.
Allerdings muss ich einschränkend sagen, dass ich dies nicht in der Ausführlichkeit tun kann, wie ich eigentlich möchte.
Dies hängt mit meiner Stellung als Vorsitzender des Wahlprüfungsausschusses zusammen. Es gehört zu den zentralen Aufgaben dieses Ausschusses, Einsprüche zu behandeln, die nach einer Wahl gegen deren Rechtmäßigkeit eingehen, und sie einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Im Moment zeichnet es sich ab, dass es wohl einige solcher Einsprüche gegen die Bundestagswahl geben wird und besorgte Bürger nach dem 27. September tatsächlich von ihrem Recht Gebrauch machen werden, Einspruch einzulegen, und zwar wegen der Regelung der Überhangmandate und des negativen Stimmengewichts, auf die Sie sich beziehen.
Den gesetzlichen Grundlagen entsprechend kann eine solche Prüfung erst ex post, d.h. nach der Wahl erfolgen. Das aber bedeutet: Mit vorherigen Äußerungen müssen Mitglieder des Ausschusses und insbesondere ich als Vorsitzender sehr vorsichtig sein. Es könnte uns am Ende sonst der Vorwurf der Voreingenommenheit ereilen, den es unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Dies legt mir große Zurückhaltung in meinen Äußerungen auf, wofür ich um Verständnis bitte.
Ich kann Ihnen deshalb gegenwärtig nur so viel sagen: Die vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eingeräumte Frist, eine Regelung in der strittigen Frage bis 2011 zu finden, ist mit gutem Grund als Fingerzeig anzusehen, dass eine verfassungskonforme Lösung in aller Ruhe gefunden werden soll und ein Schnellschuss in Gestalt des Grünen-Vorschlags, den Sie zurecht als „suboptimal“ bezeichnen, nicht gewünscht wird. Sorgfalt vor Tempo heißt die Botschaft unserer Verfassungshüter.
Wir hielten und halten es für angemessen, in einer demokratietheoretisch so bedeutsamen Frage wie der Ausgestaltung des Wahlrechts Neuregelungen ohne Zeitdruck unter Ausschöpfung der vom höchsten Gericht in weiser Voraussicht gewährten Fristen anzugehen. Das gibt auch die Möglichkeit, das Wahlrecht in parteiübergreifendem Konsens zu ändern, wofür ich nachdrücklich plädiere.
Damit grüße ich Sie herzlich und verbleibe
Ihr
Thomas Strobl MdB