Frage an Swen Schulz von Peter L. bezüglich Wirtschaft
Wie stehen Sie zu Atomkraftwerken in Europa?
Sehr geehrter Herr Lenz,
vielen Dank für Ihre Frage.
Bereits 1986 hat die SPD damals auf einem Parteitag den Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. 1998 wurde der Atomausstieg im rot-grünen Koalitionsvertrag fixiert. Bereits zwei Jahre später hat die rot-grüne Bundesregierung gemeinsam mit den Energiekonzernen den Konsens über den Ausstieg ausgehandelt. Dieser Atom-Konsens legte die noch zu produzierenden Strommengen und damit die Laufzeiten eines jeden einzelnen Atomkraftwerkes fest. 2002 wurde dieser Konsens mit der Novelle des Atomgesetzes umgesetzt.
Die schwarz-gelbe Koalition hat die Uhren wieder zurück gestellt. Im Herbst 2010 wurden ohne weitere Sicherheitsüberprüfungen an den Ländern vorbei die Laufzeiten verlängert und damit der Ausstieg aus dem Atomausstieg vollzogen. Jetzt, nur ein paar Wochen später, ist sich die Regierung bezüglich der Sicherheit dann doch nicht mehr so sicher. Mit einem Moratorium wird die zeitweilige Aussetzung der Laufzeitverlängerung beschlossen. Dies geschieht aber nicht aus Einsicht, sondern nur, um die Menschen hier in Deutschland nach dem großen Unglück in Japan zu beruhigen und zu beschwichtigen. Man kann in der Frage der Atompolitik sicherlich unterschiedlicher Meinung sein. Aber das ganze Verhalten der Bundesregierung und insbesondere der Kanzlerin in den letzten Tagen und so kurz vor einigen Landtagswahlen ist mehr als fragwürdig.
Die Energiekonzerne, Union und FDP wollen die Bürgerinnen und Bürger verunsichern, indem sie von Stromversorgungslücken, Preissteigerungen und von einer energiepolitischen Abhängigkeit Deutschlands bei Verzicht auf die Atomenergie reden. In diese Richtung ist auch der von Ihnen erwähnte Satz von Frau Merkel zu deuten. Gleichzeitig preisen sie die Atomkraft als angeblichen „Klimaschützer“ oder locken Bürgerinnen und Bürger mit unseriösen Versprechungen über Strompreissenkungen für den Fall, dass die Laufzeiten der deutschen Atomkraftwerke (AKW) verlängert werden. Fakt aber ist: Atomkraft kostet den Steuerzahler Milliardensummen, ist energiewirtschaftlich verzichtbar, löst Deutschland nicht aus der Energieabhängigkeit und leistet keinen entscheidenden Beitrag zum Klimaschutz. Schwarz-Gelb bagatellisiert Störfälle, schürt Angst vor Preiserhöhungen und setzt auf Vorurteile, um in der Bevölkerung Zustimmung zu bekommen.
AKW machen die Versorgung nicht zuverlässiger. Durch die klimawandelbedingte Zunahme extremer Wetterereignisse ist die Versorgungssicherheit bei Atomstrom gefährdet. Denn AKW müssen bei Wassermangel, zu hoher Wassertemperatur in den Flüssen oder im Fall von Überschwemmungen immer häufiger ihre Leistung drosseln oder ganz abgeschaltet werden. Im Übrigen speisten im Juli 2007 sechs deutsche Atomkraftwerke keinen Strom ins Netz ein. Dennoch musste kein einziger Kühlschrank in Deutschland deswegen seine Arbeit einstellen. Ganz im Gegenteil, Deutschland konnte 2007 sogar 14 Milliarden Kilowattstunden Strom exportieren.
100 Prozent abhängig ist Deutschland vom Uranimport als Grundlage zur Atomstromproduktion. Das Gerede von der Importabhängigkeit von Gas als Argument für Atomenergie ist Volksverdummung.
Nur 5,4 Prozent macht der Anteil der Atomenergie am deutschen Endenergieverbrauch aus. Dem stehen 8,5 Prozent gegenüber, die schon heute die Erneuerbaren Energien beisteuern.
Insgesamt haben die Bürgerinnen und Bürger die Atomenergie mit Milliarden Euro an Subventionen gestützt. Zurückhaltende Rechnungen gehen von 45-100 Mrd. Euro Subventionen aus Steuergeldern für die Atomenergie aus. Unter Einbeziehung von steuerfreien Rückstellungen der AKW-Betreiber, Forschungsförderung etc. kommen Studien sogar auf insgesamt 258 Milliarden Euro seit 1950.
Forsa hat im April 2009 ermittelt, dass zwei von drei Deutschen am Atomausstieg festhalten wollen. Das Bundesumweltministerium (BMU) hat angegeben, dass etwa die Hälfte davon den Ausstieg sogar beschleunigen möchte. Selbst unter den Schwarz-Gelben Anhängern spricht sich die Hälfte für einen Beibehalt des Atomausstiegs aus.
Eine Forsa-Umfrage vom vergangenen Dezember zeigt, dass 78 Prozent der Befragten am liebsten Strom aus regenerativen Quellen für die eigene Stromversorgung hätten. Der Ausbau erneuerbarer Energien erhält eine sehr breite Zustimmung quer durch alle poltischen Lager. Vor die Wahl gestellt, Investitionen eher in den Ausbau erneuerbarer Energien zu lenken oder vorläufig weiter in herkömmliche Energieträger wie Kohle, Gas und Atomkraft zu investieren, plädieren 81 Prozent der Befragten für einen stärkeren Ausbau der Erneuerbaren Energien.
Vor 10 Jahren haben wir das Energieeinspeisegesetz (EEG) verabschiedet. Es ist der Motor für den Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien und hat einen beispiellosen Aufschwung in dieser Branche in Gang gesetzt. Das EEG trägt somit entscheidend zu einer nachhaltigen Energieversorgung, zu einer ökologischen Energiewende und zum Klimaschutz bei.
Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Stromverbrauch konnte innerhalb der vergangenen 20 Jahre deutschlandweit mehr als vervierfacht werden und liegt nun bei 16 Prozent. In Deutschland konnte sich durch positive Investitionsbedingungen eine leistungsfähige Industrie der erneuerbaren Energien etablieren, die im Jahr 2008 im Inland Umsätze von rund 29 Milliarden Euro erzielte, wovon 13 Milliarden Euro an Investitionen in die Errichtung neuer Anlagen zurückflossen. Das Exportvolumen wuchs zwischen 2000 und 2008 von 0,5 Milliarden auf 12 Milliarden Euro. Im Jahr 2008 zählte die Branche fast 280.000 Beschäftigte. Bis zum Jahr 2020 sind bis zu 500.000 Beschäftigte möglich. Zahlreiche Fördergesetze anderer Staaten orientieren sich am deutschen Vorbild. Heute dient das EEG 47 Staaten als Vorbild für ihr eigenes Einspeisevergütungssystem.
Die Photovoltaik erlebt seit Jahren einen enormen Boom. Der Zubau des Jahres 2008 betrug rund das Sechsfache des Zubaus im Jahr 2002. Die Absenkung der Förderung durch Schwarz-Gelb gefährdet die Technologieführerschaft, die Arbeitsplätze und wahrscheinlich die Existenz einiger Betriebe. Die Folgen für das Handwerk sind noch nicht abschätzbar. Das ist schwarz-gelbe Politik gegen den Mittelstand. Dies wird definitiv Arbeitsplätze kosten.
Erst in der vergangenen Woche hat Frau Merkel im Plenum eine Kehrtwende vorgenommen und den Ausbau der erneuerbaren Energien angekündigt. Dabei muss man wissen, dass ein paar Stunden zuvor die Bundesregierung in ihrem Haushaltsentwurf für 2012 ankündigt, die Mittel um über eine Milliarde Euro zu kürzen. Auch hier passen die einzelnen Aussagen nicht zusammen.
Wir alle sind tief betroffen über das Schicksal, das die japanische Bevölkerung getroffen hat. In der Frage um die Sicherheit unserer AKWs geht es aber nicht allein darum, dass wir in Deutschland keine Erdbebengefahr befürchten müssen wie Japan.
Alte AKW sind trotz aller Nachrüstungen allein aufgrund der Baukonstruktion (keine Kuppelform, unterschiedliche Wanddichten der Reaktordruckbehälter etc.) weniger sicher als neuere. Nachrüstungen, gerade der ältesten Reaktoren, sind gar nicht oder nur teilweise möglich. Sie können baulich bedingt nicht mehr auf den aktuellen Sicherheitsstandard „Stand von Wissenschaft und Technik“ gebracht werden. Wenn Sie so wollen, gibt es keine Ersatzteile mehr.
Eine Untersuchung der Internationalen Länderkommission Kerntechnik kam schon 2002 zu dem Ergebnis, dass nur 3 der damals 19 Atomkraftwerke einem Angriff mit einem größeren Flugzeug standhalten würden. Eine Nachrüstung sei technisch und wirtschaftlich nicht machbar. Auch eine Studie der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) kommt zu dem Ergebnis, dass keines der deutschen AKW hundertprozentigen Schutz vor Terrorangriffen aus der Luft bietet. Zehn Atomkraftwerke würden bei einem Kamikaze-Angriff schwere Schäden bis zu einer Kernschmelze davontragen. Auch bei den sieben moderneren Druckwasser-Reaktoren, deren Betonhüllen dem Flugzeugaufprall demnach wahrscheinlich standhalten würden, wären die Folgen im Inneren der Anlage durch die Erschütterungen nicht absehbar. Nach Ansicht des Bundesinnenministeriums hat sich die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes auf ein AKW deutlich erhöht. Man kann seit dem 11. September 2001 nicht mehr – wie in den 70ern und 80ern - von einem zu vernachlässigenden Restrisiko sprechen.
Auch vor den aktuellen Ereignissen in Japan kam es nicht nur in Tschernobyl, sondern auch in westlichen Ländern mit vergleichbaren Atomkraftwerken wie in Deutschland bereits immer wieder zu erheblichen Zwischenfällen. Die Liste ist lang. Nur vier Beispiele: In Großbritannien lief 2007 zeitweise nur ein AKW einwandfrei. In Schweden kam es 2007 im AKW Forsmark zu einem ernsten Störfall. Im französischen AKW Tricastin entwich im Sommer 2008 radioaktive Flüssigkeit. Auch in Japan musste bereits 2007 nach einem schweren Erdbeben das weltweit größte Atomkraftwerk Kashiwazaki-Kariwa mit insgesamt sieben Reaktoren abgestellt werden. Bis Mitte 2009 brach acht Mal während der Vorbereitung zum Wiederanfahren des am wenigsten beschädigten Reaktors Feuer aus.
All diese Sicherheitsprobleme waren seit Jahren bekannt – auch der schwarz-gelben Bundesregierung: Umweltminister Röttgen sagte z.B. im Mai 2010 im Interview mit der FAZ: „Keines unserer 17 Kernkraftwerke hat den Stand der Technik, den es hätte, wenn es neu gebaut würde. Drei haben keinen Schutz gegen Flugzeugabstürze. Die Kraftwerke müssen etappenweise auf den Stand der Nachrüsttechnik gebracht werden“ (Norbert Röttgen, FAZ vom 20.05.2010). Auf der Internetseite des BMU hieß es noch im vergangenen Jahr: „Eine generelle Laufzeitverlängerung ist aufgrund des Risikos für die Bevölkerung nach dem Atomgesetz nicht vorgesehen. Die ältesten Atommeiler waren vielleicht mal modern, als sie in den Siebzigern ans Netz gingen. Heute wären diese Atommeiler, wollte man sie neu in Betrieb nehmen, gar nicht mehr genehmigungsfähig.“ Die Internetseite ist inzwischen aus dem Netz genommen worden.
Im Zuge des Deals mit der Atomlobby wurden jedoch alle Bedenken beiseite gewischt und drängende Sicherheitsprobleme ignoriert. Schlimmer noch: Die Atomgesetznovellen aus dem letzten Herbst gaben den Freibrief für einen Betrieb ohne Beseitigung auch nur einer der grundlegenden Sicherheitsschwächen der alten Anlagen. Zudem wurden Sicherheitsanforderungen noch weiter verwässert.
Es gibt noch eine Vielzahl von weiteren Argumenten, die aus meiner Sicht für einen Atomausstieg - nicht nur in Deutschland sondern in ganz Europa - sprechen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat aktuell in dieser Sitzungswoche im Rahmen der Debatte über die Energie- und Atompolitik mehrere Gesetzentwürfe bzw. Anträge eingebracht, die den Ausstieg aus der Atomenergie und den Übergang zu regenerativen Energien klar regeln.
Falls Sie weiteren Gesprächsbedarf haben, können Sie gerne zu einem persönlichen Gespräch in meine Bürgersprechstunde in meinem Bürgerbüro in der Bismarckstr. 61 in Spandau kommen. Einen Termin können Sie unter der Telefonnummer 030/ 36 75 70 90 vereinbaren.
Darüber hinaus erreichen Sie mich direkt unter
Swen Schulz, MdB
Deutscher Bundestag
Platz der Republik 1
11011 Berlin
oder per E-Mail unter
swen.schulz@bundestag.de
Mit den besten Grüßen
Swen Schulz, MdB