Frage an Stephanie Iraschko-Luscher von Nevin Y. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Iraschko-Luscher,
mich würde interessieren wie Sie sich für Integration einsetzen und vor allem wie Sie Integration für sich definieren. Der Hintegrgrund meiner Frage ist:
Obwohl ich seit nunmehr 32 Jahren in Hamburg lebe, hier sozialisiert wurde, deutsch besser spreche als manch ein Deutscher und sogar eingebürgert bin, werde ich immer wieder "leidvoll" von der Mehrheitsgesellschaft als "Migrantin" wahrgenommen. ich empfinde es als Reduktion und fühle mich sehr diskriminiert. Es stellt sich zunehmend die Frage, ob die Mehrheitsgesellschaft integrationsfähig ist. Ich bitte Sie hierzu zu einer Stellungsnahme.
Mit freundlichen Grüßen
Nevin Yasar
Sehr geehrte Frau Yasar,
eine Gesellschaft wird durch Vielfalt bereichert. Ich begrüße die ethnische und kulturelle Differenzierung in der Bundesrepublik Deutschland. Menschen unterschiedlicher Herkunft mit ihrer spezifischen Identität sind fester Bestandteil einer zukunftsweisenden liberalen Bürgergesellschaft. Diese so verschiedenen Menschen bringen mit ihren persönlichen Talenten und Zielen, mit ihrer Perspektiven-, Ideen- und Erfahrungsvielfalt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung voran. Voraussetzung ist, dass wir die Unterschiedlichkeit der Menschen anerkennen und diesen Unterschieden mit Toleranz, Respekt und Neugier begegnen.
Unterschiede zu leugnen und Ungleiches gleich zu behandeln, ist daher keineswegs sozial oder solidarisch, sondern schlicht ungerecht. Menschen sind nicht gleich, aber gleichwertig und sie sollten gleichberechtigt sein. Jede und jeder sollte die Freiheit haben, sich auf Basis der individuellen Eigenschaften, Fähigkeiten, Kenntnisse und Neigungen zu entfalten. Allerdings kann eine Gesellschaft diese Freiheiten für alle nur garantieren, wenn sie sich bei ihrer Verwirklichung auf fundamentale Gemeinsamkeiten einigt. Dazu gehören für die deutsche Gesellschaft gute Kenntnisse der deutschen Sprache und die vorbehaltlose Akzeptanz der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der Grundwerte, auf der diese beruht. Dies umfasst auch die Kenntnis und Akzeptanz des daraus folgenden Rechtssystems. Ein Kern von gemeinsamen Grundwerten und ?regeln garantiert den Zusammenhalt des Ganzen und gibt so dem Recht auf kulturelle Verschiedenheit sowie dem Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit einen Rahmen und Grenzen.
Deutschland ist seit Jahrzehnten ein Zuwanderungsland und wird es bleiben. Unsere Bevölkerung besteht zu einem nennenswerten Anteil aus Menschen mit Migrationshintergrund, seien es ehemalige sog. Gastarbeiter und ihre Familien, Flüchtlinge, Spätaussiedler, jüdische Kontingentflüchtlinge oder anerkannte Asylbewerber. Dies wurde lange geleugnet. Ebenso lange wurde die Integration von Zuwanderern von staatlicher Seite dem Zufall überlassen. Dieses Versäumnis hat zu manchen Problemen in unserer heutigen Gesellschaft geführt. Diese müssen wir offen benennen und uns dieser Aufgabe stellen.
In der Vergangenheit hat die Bürgergesellschaft teilweise die Lücken gefüllt, die dadurch entstanden sind, dass die Politik Deutschland nicht als Einwanderungsland anerkannt hat. Kommunen, Kirchen, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, soziale Verbände, private Initiativen, Migrantenorganisationen, Bildungsträger und andere Institutionen haben zahlreiche Maßnahmen zur Integration von Zuwanderern konzipiert und durchgeführt. Bürgerschaftliches Engagement soll und wird auch künftig eine zentrale Rolle bei der Integration spielen. Die Gesellschaft ist als Ganzes und jeder und jede einzelne ist selbst gefordert, damit Integration gelingen kann. Wir müssen die Integration - sowohl der bereits hier lebenden als auch der noch zu erwartenden - Menschen mit Migrationshintergrund nun auch politisch systematisch angehen. Das Zuwanderungsgesetz ist verabschiedet, ein neuer rechtlicher Rahmen auch für die Integrationspolitik in Deutschland nach zähem, langem Ringen geschaffen. Diesen Rahmen gilt es auszufüllen und vor allem über die Vorgaben des Zuwanderungsgesetzes hinaus in Deutschland eine systematische, professionalisierte Integrationspolitik zu betreiben. Ziel liberaler Integrationspolitik ist es, Ausländern und Menschen mit Migrationshintergrund gleiche Bildungs- und Berufschancen in unserer Gesellschaft zu gewähren und sie möglichst umfassend am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu beteiligen; dies liegt im Interesse unseres Landes. Nicht Assimilation, aber ein gegenseitiges Aufeinanderzugehen, gegenseitiges Verständnis sowie Akzeptanz unserer Rechts- und Werteordnung sind dabei Grundvoraussetzungen für ein gedeihliches und friedliches Zusammenleben. In diesem Sinne sind für die dauerhafte Integration in Gesellschaft, Staat, Arbeitsleben und Kultur verlässliche gesetzliche Rahmenbedingungen ebenso notwendig wie ein breiter gesellschaftlicher Konsens über die Notwendigkeit zur Integration als Aufgabe für alle Beteiligten. Dabei müssen die Anstrengungen für eine gelungene Integration, für ein gelebtes Miteinander, so früh und so effizient wie möglich ansetzen. Unser Ziel ist die Bildung einer Verantwortungsgemeinschaft zwischen Einheimischen und Zugewanderten mit gemeinsamen Werten und mit einer gemeinsamen Identifikation.
Integration ist ein wechselseitiger Prozess. Die Betroffenen müssen auch selbst bereit sein, sich verpflichtenden Anforderungen bei der Integration zu stellen und diese aktiv zu unterstützen. Integrationskompetenz ist im Zeitalter der Globalisierung ein klarer Wettbewerbsvorteil.
Nicht zuletzt aufgrund der demographischen Entwicklung lebt Deutschland in Zukunft noch stärker von den Potentialen von Zuwanderern. Migration kann die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland nicht umkehren. Aber durch Zuwanderer kann der Prozess des Schrumpfens und Alterns unserer Gesellschaft abgemildert werden. Zuwanderung kann außerdem zumindest in Teilen dem zu erwartenden Fachkräftemangel entgegenwirken und dazu beitragen, dass die notwendigen Reformen vor allem in den sozialen Sicherungssystemen etwas weniger drastisch ausfallen müssen. Voraussetzung ist, dass es uns gelingt, Zuwandernde auch in unsere Arbeitswelt zu integrieren. Wenn wir im internationalen Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte und Forscherinnen und Forscher erfolgreich sein wollen, brauchen wir schlüssige und transparente integrationspolitische Konzepte. Denn Zuwanderungswillige entscheiden sich auch aufgrund ihrer Erwartungen an die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft für oder gegen ein Land. Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund ist eine staatliche und gesellschaftliche Querschnittsaufgabe. Integration betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Sie vollzieht sich im Gemeindeleben, in der Nachbarschaft, im Verein und am Arbeitsplatz. Das Feld reicht beispielsweise von den Tageseinrichtungen für Kinder über die verschiedenen Schularten bis zu den Hochschulen, betrifft Handwerk, Mittelstand und Industrie ebenso wie die Kultur und den Sport und nicht zuletzt Fragen der inneren Sicherheit. Dementsprechend tangiert die Integration zahlreiche Politikfelder. Integration ist ein Thema auf Ebene des Bundes, des Landes und der Kommunen.
Bundes-, Landes- und Kommunalbehörden müssen gemeinsam und wohl koordiniert diesen Prozess gestalten. Wichtig ist dabei eine enge Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen und anderen nichtstaatlichen Organisationen, die einen Beitrag zur Integration leisten. Ein Ziel aller Anstrengungen ist es, das Verständnis und die Verständigung zwischen der deutschen und ausländischen Bevölkerung und ein friedliches und partnerschaftliches Zusammenleben auf der Basis gemeinsamer Grundwerte zu fördern. Voraussetzung dafür ist die Offenheit und Toleranz der deutschen Bevölkerung und ihr respektvoller Umgang mit dem Anderen und Fremden. Zur Integrationsfähigkeit gehört die Bereitschaft, Migration als Tatsache zu akzeptieren und für Zuwanderer Rahmenbedingungen zu schaffen, die Chancengleichheit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Zum Gelingen von Integration ist aber gleichzeitig ein aktives Engagement jedes einzelnen Zugewanderten bei der Eingliederung in die deutsche Gesellschaft unabdingbar. Der Wille zur Integration beinhaltet, die deutsche Sprache zu erlernen sowie die Grundwerte unserer Verfassungs- und Rechtsordnung und das sich daraus ergebende Gesellschaftssystem vorbehaltlos zu akzeptieren und selbst zu leben. Zu diesen Grundwerten gehört die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Die Geschlechtergleichstellung gilt uneingeschränkt für Migrantinnen und Migranten und darf nicht mit dem Verweis auf andere Traditionen außer Kraft gesetzt werden. Zuwanderinnen dürfen nicht ausgeschlossen werden vom Erlernen der deutschen Sprache, von Bildung, Beruf und anderen Bereichen der Integration. So muss die Teilnahme am Regelunterricht in Schulen für alle Kinder ausnahmslos verpflichtend sein und Ausnahmen, etwa beim Sport- und Biologieunterricht, dürfen nicht zugelassen werden. Kultur und Religion sind auf keinen Fall eine Rechtfertigung für menschenrechtswidrige Praktiken wie z. B. Zwangsheirat.
Ich denke schon, dass die deutsche Gesellschaft integrationsfähig ist. Öffentlich und medial wahrgenommen werden jedoch bedauerlicherweise meist nur die Negativfolgen verfehlter bzw. nicht vorhandener Integrationspolitik der letzten Jahrzehnte. Vielleicht möchten Sie sich politisch aktiv für den Abbau von Vorurteilen einbringen - bei den Liberalen wären Sie jedenfalls jederzeit herzlich willkommen.
Mit freundlichen Grüßen
Stephanie Iraschko-Luscher