Frage an Stephan Kühn von Georg G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Hallo Herr Kuhn,
meine Frage betrifft den Gesetzgebungsprozess in der EU. Auf europäischer Ebene treffen sich die Fachminister im Ministerrat, um europäische Gesetze nicht nur zu beraten, sondern auch zu beschliesen. Wenn ich es richtig verstanden habe, muss dann noch das EU-Parlament in Strassburg zustimmen, bevor es an die nationalen Parlamente geht.
Diese stehen dann nicht selten unter Druch von der nationalen Regierung, vom Europäischen Rat und Rat der Europäischen Union (die europäischen Regierungen), von EU-Kommissar und nicht zuletzt des Europäischen Parlamentes, das Gesetz, was europäisch schon beschlossen wurde, auch in nationales Gesetz zu verankern.
Für mich ist diese Verfahrensweise in der Gesetzgebung nicht nachvollziehbar. Es widerspricht der parlamentarischen Demokratie, in der die Regierung allein vom Parlament abhängen soll, und es widerspricht eines Prinzips der gegenseitigen Kontrolle und Balance auf europäischer Ebene. Für letzteres wäre es sinnvoller, wenn die Fachausschüsse aus den nationalen Parlamenten Vertreter in den Rat der EU (der Ministerrat) anstelle der Fachminister senden würden, das also die Parlamente direkt in den europäischen Gesetzgebungsprozess eingebunden wären. Die europäischen Regierungen treffen sich ja bereits im Europäischen Rat und können dort über Vorhaben beraten.
Dies würde auch wieder das Selbstbewusstsein der Parlamentarier in den nationalen Parlamenten stärken, und sie würden die EU wieder als ihre EU wahrnehmen. Bisher schiebt man ja den schwarzen Peter für unbeliebte Entscheidungen nicht selten auf "die EU".
Also wieso schickt der Bundestag anstelle Vertreter der Bundesriegung nicht Vertreter aus den Fachausschüssen, die dann direkt an die Ausschüsse berichten können um diese schneller und direkter an den europäischen Gesetzgebungsprozess zu beteiligen, in den Rat der Europäischen Union?
Viele Grüße aus Dresden!
Georg G.
Lieber Georg G.,
vielen Dank für Ihre interessante Anfrage. Bitte entschuldigen Sie vorweg meine späte Beantwortung.
Die Entstehung der Europäischen Union wie wir sie heute kennen, erfolgte in vielen kleinen Schritten sowohl quantitativ was die teilnehmenden Staaten, als auch qualitativ was die auf europäische Ebene delegierten Kompetenzen betrifft. Ohne hier nun im Detail auf die Erweiterung der EU von sechs auf siebenundzwanzig Mitgliedstaaten einzugehen und die durch die maßgeblichen Verträge der letzten beiden Jahrzehnte (Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon) erfolgte Vertiefung der Union genauer zu umschreiben, lassen sich bestimmte Konstanten der Europäischen Integration festmachen, die es nicht anders erlauben, als den gegenwärtigen Zustand der EU als ein Zwischenstadium, als eine Übergangsphase zu betrachten. So entwickelte sich das Europäische Parlament von einer parlamentarischen Versammlung, über die Erhöhung der Legitimation durch die Einführung der Direktwahl 1979, von Vertragsreform zu Vertragsreform immer weiter. Das Parlament ist mittlerweile bis auf vereinzelte Ausnahmen (etwa bestimmte Fragen der Außenpolitik, des Strafrechts, der Wettbewerbs- und Handelspolitik) gleichwertiger Gesetzgeber und muss den Vorlagen des Rates nicht hinterher zustimmen, sondern kann über konkrete Beschlüsse von Änderungsvorschlägen direkt mit dem Rat in Verhandlungen treten und im Zweifelsfall einen Beschluss verhindern. Aus unserer Sicht ist das Europäische Parlament und seine Stärkung einer der essentiellen Bausteine der weiteren Demokratisierung der Europäischen Entscheidungsprozesse.
Die Rolle der nationalen Parlamente wird über zwei verschiedene Standbeine organsiert. Seit dem Vertrag von Maastricht (seit 1993 in Kraft) zeichnete sich allerdings eine Stärkung der Mitbestimmungsrechte der nationalen Parlamente ab, die durch die Möglichkeit der nationalen Parlamente sogenannte Subsidiaritätsrügen- oder Klagen zu beschließen, diesen ein Instrument in die Hand gab, bereits vorab auf den Europäischen Gesetzgebungsprozess einzuwirken. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, dass politische Entscheidungen dort getroffen werden müssen, wo es Sinn macht, das heißt möglichst nahe an den betroffenen Menschen. Wenn ausreichend nationale Parlamente (1/3, bzw. 1/2) der Auffassung sind, dass ein Legislativvorschlag diesem Prinzip widerspricht, so können die Parlamente eine Überarbeitung des Vorschlages veranlassen („gelbe Karte“) oder ihn gemeinsam mit dem Rat stoppen („rote Karte“). Das Ziel des Subsidiaritätsprinzips ist aber nicht nur die Möglichkeit der Verabschiedung von Rügen, sondern die Befassung der nationalen Parlamente vom ersten Tag an, wenn die Kommission einen Legislativvorschlag vorlegt. Denn, und hier kommt das zweite Standbein zu tragen, die nationalen Parlamente können über ihre europapolitischen Mitbestimmungsrechte die von den Regierungen vertretenen Positionen aktiv mitbestimmen und das Abstimmungsverhalten der Regierungsmitglieder beeinflussen. Der Bundestag wird über alle europapolitischen Aktionen der Bundesregierung umgehend unterrichtet und hat weitreichende Mitwirkungsrechte. In diesem Sinne teile ich nicht Ihre Einschätzung, dass das gegenwärtige System der parlamentarischen Demokratie widerspricht. Es gibt zwei Ebenen, mit dem Bundestag und dem Europäischen Parlament als Foren direkt gewählter RepräsentantInnen und zwei Exekutiven, die Bundesregierung und die Europäische Kommission, die ihrer Legislative gegenüber verantwortlich sind und abgewählt werden können.
Ich stimme Ihnen zu, dass wir uns hier im Bundestag und auch im Europäischen Parlament Gedanken darüber machen müssen, wie wir die Europapolitik noch besser nachvollziehbar, noch demokratischer, noch effizienter machen können und dürfen dabei auch vor großen Änderungen keine Scheu haben. Allerdings müssen auch diese in einem demokratischen Prozess erarbeitet werden, wofür wir eine breite Diskussion in einem parlamentarisch geprägten Europäischen Konvent vorschlagen, der konkrete Änderungen für die Europäischen Verträge erarbeitet. In diesem Zusammenhang können dann auch Ideen diskutiert werden, wie jene immer wieder auftauchende, den Rat in Anlehnung an den US-amerikanischen Senat, zu einer Länderkammer umzufunktionieren und dem EP vollständig gleichzustellen. Ihr Vorschlag aber, dass der Bundestag VertreterInnen seiner Ausschüsse statt der Regierungsmitglieder nach Brüssel schickt, widerspricht gegenwärtig sowohl dem nationalen, als auch dem europäischen Recht und kann daher nicht im Sinne einer Weiterentwicklung der demokratischen Teilhabe verstanden werden.
Ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Initiative und Ihr Schreiben und verbleiben mit
Besten Grüßen,
Stephan Kühn