Frage an Steffen Kanitz von Rita P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kanitz,
wie stehen Sie zu Volksabstimmungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene?
Mit freundlichen Grüßen
R. P.
Sehr geehrte Frau P.,
vielen Dank für Ihre Mail zu Volksabstimmungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.
Ich werde heute Abend gemeinsam mit den Vertretern anderer Parteien an einer Podiumsdiskussion genau zu diesem Thema teilnehmen. Die Podiumsdiskussion ist öffentlich und findet auf Initiative von Mehr Demokratie e.V. um 18:30 Uhr in der Auslandsgesellschaft NRW, Steinstr. 48, 44147 Dortmund statt.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben die Verfassung so gestaltet, dass direktdemokratische Elemente eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Das halte ich für richtig mit Blick auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik. Das Grundgesetz sieht daher nur zwei Fälle von obligatorischen Volksentscheiden auf Bundesebene vor: eine bundesweite Abstimmung über eine neue Verfassung nach Artikel 146 und bei der Neugliederung des Bundesgebietes in den betroffenen Gebieten nach Artikel 29.
Die Union bekennt sich zur repräsentativen Demokratie, in der politische Führung und demokratische Verantwortung wirksam miteinander verbunden werden. Repräsentative Demokratie schließt dabei Elemente unmittelbarer Demokratie keinesfalls aus. Auf den regionalen Ebenen, wo es um Problemlösungen vor Ort geht, können Befragungen sowie Bürgerinitiativen und Bürgerentscheide das repräsentative System sinnvoll ergänzen. Auf Bundesebene jedoch, können Volksentscheide oder ähnliche Verfahren den oft komplexen Fragen unserer Gesellschaft kaum gerecht werden. Naturgemäß können die meisten Volksentscheide nur einfache „Ja“ oder „Nein“ Antworten anbieten. Die Gesetzgebung ist oft sehr vielschichtig und muss eine kaum überschaubare Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen berücksichtigen. Um hier zu zufriedenstellenden Antworten zu gelangen, wird im Deutschen Bundestag auf dem Wege der Gesetzgebung ein Verfahren angewandt, dass ein hohes Maß thematischer Tiefe und Flexibilität erlaubt. Durch drei Lesungen, Ausschussberatungen, Sachverständigenanhörungen und Berichterstattergespräche wird eine ausgewogene und faire Gesetzesfindung sichergestellt. Auf dem Wege dieses „lernenden Verfahrens“ ist Spielraum, Änderungen und Anpassungen zu berücksichtigen.
Volksentscheide erlauben eine solche detailreiche Abstimmung nicht. Die unangemessene Verkürzung vieler Sachthemen kann leicht zu populistisch beeinflussten Ergebnissen führen, bei denen die notwendigen Kompromisse der parlamentarischen Diskussion auf der Strecke blieben. Dies geht insbesondere zu Lasten von Minderheiten und gesellschaftlich benachteiligten Gruppen, denn oft sind bei Volksentscheiden gut organisierte Lobbygruppen, die den Volksentscheid wollen, im Vorteil. Sie schaffen es, ihre Unterstützer zu mobilisieren und zu motivieren. Deswegen sind Volksentscheide oft genau das Gegenteil von dem, was sie sein sollen. Nicht das gesamte Volk entscheidet, sondern eine gut organisierte Minderheit. Gemessen an der bürgerschaftlichen Leitidee, in öffentlicher Auseinandersetzung erst nach Alternativen zu suchen, dabei Interessen möglichst breit zu berücksichtigen, benachteiligte Gruppen zu unterstützen, Kompromisse zu bilden und die Bürgerinnen und Bürger in ihre Umsetzung einzubeziehen, sind Volksabstimmungen eine schwache, in ihrer aktivierenden Wirkung eher ambivalente Form direkter Demokratie.
Liebe Frau P., ich befürworte Volksentscheide auf der kommunalen und der Landesebene als Ergänzung zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie. Auf Bundesebene lehne ich sie aus den skizzierten Gründen ab.
Mit freundlichen Grüßen und vielleicht bis heute Abend im persönlichen Gespräch,
Ihr
Steffen Kanitz MdB