Frage an Stefan Urbat von Manuel S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Urbat,
Ihre Partei ist für mehr Demokratie, Transparenz und Mitbestimmung. Wie würden sie versuchen, die lokale Politik zu verändern, um diese Ziele zu erreichen?
Mit freundlichen Grüßen
Manuel Schuhr
Sehr geehrter Herr Schuhr,
in Bezug auf Ihre Frage sind meiner Auffassung nach folgende fünf Punkte entscheidend:
1. ein faireres Wahlrecht mit größerem Einfluss der Wähler auf das Ergebnis. Hier erscheint mir z.B. das aktuelle Hamburger Wahlrecht mit einer offenen Landesliste, auf der wie bei unseren Kommunalwahlen auch Personen gezielt (bis zu 5 Stimmen insgesamt, beliebig verteilt) gewählt werden können und Multikandidatenwahlkreise, in denen nicht nur die Kandidaten mit den meisten Stimmen gewählt werden, als ein gutes und auch für Baden-Württemberg gangbares Konzept. - Das aktuelle Wahlrecht in Baden-Württemberg vermischt in für kleinere Parteien, die keine Wahlkreismandate direkt gewinnen können, nachteiliger Weise die Personenwahl mit der Wahl der zugehörigen Partei über dieselbe Stimme und richtet die absolut höchsten Hürden bundesweit für die Zulassung von Parteien auf, um in ganz Baden-Württemberg wählbar zu sein: man muss 70 Direktkandidaten aufstellen und als Partei, die nicht in unserem Landtag BW sitzt, auch noch 150 Unterstützungsunterschriften von Wahlberechtigten pro Wahlkreis sammeln, das ist deutlich mehr als 1/1000 der Wahlberechtigten und ein weiterer Negativrekord in Deutschland.
2. es gibt im Gegensatz zur Bundesebene und 12 Bundesländern noch immer kein Informationsfreiheitsgesetz in Baden-Württemberg. Ein solches, möglichst bürgerfreundliches, d.h. geringen oder keinen Gebühren und minimalen Ausschlussgründen (personenbezogene Daten) sowie Abstrichen bei der Auskunft (nur die betroffenen Daten sollten ausgenommen werden, nicht alles darum herum) wäre Voraussetzung für mehr Bürgerbeteiligung auf Landes- und Kommunalebene, indem die Ämter derselben uns Bürgern gegenüber generell auskunftspflichtig würden.
3. Volksentscheide auf Landesebene sind in BW nur auf dem Papier möglich: durch exorbitante Hürden sind bisher alle 8 Versuche, per Volksbegehren einen Volkentscheid herbei zu führen, an diesen gescheitert; im Fall des großen Aufregerthemas Stuttgart 21 wurde aufgrund dessen ein solcher Versuch gar nicht erst gestartet. Konkret sind folgende Maßnahmen sinnvoll und werden von mir und unserer Partei mit Nachdruck angestrebt:
a) die Anforderungen an ein erfolgreiches Volksbegehren müssen gesenkt werden: 6 Monate statt 2 Wochen Sammelfrist, freie Sammlung statt Bürgeramtseintragung (auch zu Diskussionszwecken!), und die Senkung der höchsten Hürde, des Quorums von 1/6 der Wahlberechtigten auf einen vernünftigen Wert, vorzugsweise 5%, wie vom Verein Mehr Demokratie e.V. vorgeschlagen: die Erfahrung lehrt, dass 10% das höchste sind, was noch regelmäßig zu überwinden ist (Bayern), während Werte darüber die Tür dafür effektiv zuschlagen (wie in BW z.B. im Saarland sogar mit 20%).
b) die Umwandlung des Antrags auf einen Volksentscheid in eine Volksinitiative, d.h. bei Erreichen der 10000 Unterschriften dafür MUSS sich der Landtag mit einer solchen Initiative anders als bisher beschäftigen, damit wird die Diskussion zwischen Antragstellern und Parlamentariern so früh wie möglich eröffnet. Bei Nichtübernahme der Initiative kann wie bisher gleich zum Volksbegehren übergegangen werden.
4. Verbesserung der Regeln für Bürgerentscheide: obwohl diese schon lange in BW möglich sind, besteht hier einiges Verbesserungspotenzial:
a) die Streichung des Negativkatalogs, der insbesondere Planungsvorhaben (speziell für Bauvorhaben) weitgehend von Bürgerentscheiden ausschließt; nur so können auch willkürliche/gezielte Ablehnungen von Bürgerentscheiden vermieden werden, wie bei S21 erlebt, wenn eine Gemeinderatsmehrheit bürgerfeindlich agiert.
b) die Streichung weiterer Hürden wie Kostendeckungsvorschläge oder die Einführung von Bürgerentscheidsmöglichkeiten auf Landkreisebene, um die wichtigsten zu nennen.
5. die Verteidigung des Demonstrationsrechts gegen Einschränkungen:
a) die Abschaffung der "Wegtragegebühr", ein nicht lustiges Baden-Württember Unikum, das mit 40 Euro pro eingesetztem Polizist zu Buche schlägt, und Sitzblockaden finanziell abschreckt.
b) die Verhinderung der Verschärfung des Versammlungsrechts in Baden-Württemberg nach bayrischem Vorbild, die seit 2008 von der Landesregierung, hauptsächlich der CDU, betrieben wird, und sich schon im Vorfeld in offensichtlich gesetzwidrigen Auflagen und Einschränkungen durch Ordnungsämter zeigt, gegen die man auch noch im Einzelfall gerichtlich vorgehen muss.
Sie sehen, hier ist in Baden-Württemberg noch sehr viel zu tun, alles in Allem nehmen wir hier wohl die letzte Position aller Bundesländer in Deutschland ein. Wir müssen jetzt aber die Gelegenheit ergreifen, da im Umfeld von Stuttgart 21 die genannten Schwächen offensichtlich und mehr Baden-Württembergern als je zuvor bewusst wurden, d.h. das Eisen schmieden, solange es noch heiss ist.
Mit freundlichen Grüßen, Stefan Urbat