Frage an Stefan Ruppert von Ulrich W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Ruppert,
bei der Diskussion der Wahlrechtsreform im Bundestag am 26. Mai dieses Jahres haben Sie den Gesetzentwurf der SPD kritisiert und festgestellt, er hätte das Problem des negativen Stimmgewichtes nicht einmal im Jahre 2005 im Wahlkreis Dresden I behoben (in dem das negative Stimmgewicht wegen der dortigen Nachwahl-Situation unter Laborbedingungen zu beobachten war). Dies sei "so, als würden Sie Ihr Auto zur Reparatur in die Werkstatt geben, um das schwere Problem am Motor beheben zu lassen, und die Werkstatt würde Ihnen vorschlagen, bessere Scheibenwischer am Fahrzeug anzubringen."
Leider verhält es sich mit dem am vergangenen Donnerstag beschlossenen Wahlrecht ähnlich. Wären 2005 bei der Nachwahl in Dresden 5000 CDU-Anhänger zuhause geblieben, so hätte die CDU nach dem neuen Wahlrecht ein zusätzliches Mandat gewonnen: Das Land Sachsen hätte einen Sitz an das Land Berlin verloren, der dort an die CDU gegangen wäre. Der verlorene Sitz in Sachsen wäre zu Lasten der CDU gegangen, was wegen der dortigen Überhang-Situation aber unschädlich gewesen wäre. Und für das CDU-Direktmandat in Dresden I hätte es trotzdem noch gereicht. Diese 5000 CDU-Wähler haben ihrer Partei also offensichtlich geschadet - ihre Stimme hatte ein negatives Gewicht. Die Koalition hat also ganz offensichtlich lediglich neue Scheibenwischer am Wahlrecht angebracht.
Halten Sie es für richtig, dass man als Wähler von potentiell überhängenden Parteien zukünftig darüber nachdenken muss, ob man seiner Partei am meisten hilft, wenn man bei der Wahl zuhause bleibt? Wahlkreise, in denen der Direktkandidat auf einige 10,000 Stimmen hätte verzichten können, gibt es ja genug (unser Wahlkreis Hochtaunus gehört dazu).
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Wiesner
Sehr geehrter Herr Wiesner,
vielen Dank für Ihre Anfrage auf www.abgeordnetenwatch.de vom 2. Oktober 2011 zur Wahlrechtsreform. Ich habe die zahlreichen Berechnungen auf Ihrer Webseite, auf denen offensichtlich Ihre Anfrage basiert, mit Interesse zur Kenntnis genommen.
Die Koalition hat zur kürzlich im Bundestag verabschiedeten Wahlrechtsreform ebenfalls mathematische Berechnung durchführen lassen. Nach diesen Berechnungen wird das negative Stimmgewicht durch das neue Wahlrecht nahezu komplett beseitigt. Eine Auswertung von 1.000 zufällig simulierten Wahlergebnissen im Umfeld der tatsächlichen Ergebnisse von 2005 und 2009 ergab, dass nur noch in 9 bzw. 14 Fällen ein negatives Stimmgewicht darstellbar wäre. Bei dieser geringen Wahrscheinlichkeit des Auftretens von negativem Stimmgewicht kann man davon ausgehen, dass es sich um „seltene Ausnahmefälle“ handelt, die das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seines Urteils als vernachlässigbar beschrieben hat.
Wodurch ergibt sich nun der Unterschied zu Ihren Berechnungen? Offensichtlich basieren Ihre Simulationen auf der Annahme, dass zusätzliche Zweitstimmen von zusätzlichen Wählern abgegeben werden. Die Berechnungen der Koalition gehen hingegen davon aus, dass die Anzahl der abgegebenen Wählerstimmen konstant bleibt. Zusätzliche Zweitstimmen für eine Liste kommen hier beispielsweise aus dem Topf der ungültigen Zweitstimmen oder Stimmen von Parteien, die unter die 5-Prozent-Hürde gefallen sind. Sicherlich kann man sich mathematisch und auch demokratietheoretisch darüber streiten, welche der beiden unterschiedlichen Annahmen die bessere bzw. realistischere ist. Mir erscheint es jedoch so, dass sich dieser Streit nicht zugunsten einer Seite auflösen lässt. Insofern besteht meiner Meinung nach kein Anlass, die obigen Berechnungen für das von der Koalition beschlossene Wahlrechtsmodell grundsätzlich in Frage zu stellen.
Ich bedanke mich dennoch bei Ihnen für Ihre Anfrage und die von Ihnen durchgeführten Simulationen und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Dr. Stefan Ruppert, MdB