Frage an Stefan Gelbhaar von Irmgard R. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Gelbhaar,
es ist oft davon die Rede, dass Facharbeiter zu uns kämen. Die Realität sieht oft anders aus, da wanderte zum Beispiel mindestens ein ganzes Dorf nach Berlin ein, wie ich Ihnen anhand dieser Berichte gerne belege:
http://www.bz-berlin.de/bezirk/neukoelln/ein-roma-dorf-zieht-nach-berlin-article1426839.html
Von 240 000 neuen Jobs sollen dieses Jahr 37.000 an die hier lebenden Menschen gehen und der größte Teil an Einwanderer, siehe diesen Bericht:
http://www.rp-online.de/wirtschaft/auch-2014-wird-es-keinen-job-boom-geben-aid-1.3708096
Außerdem wird sogar für die daheim gebliebenen Kinder Kindergeld bezahlt: Siehe diesen Bericht Seite 2:
http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/Weisung_Kindergeld_260508.pdf
Da können die Wirtschaftskreise meine Erachtens noch so viel Rabulistik verbreiten. Es gab und gibt auch ernst zu nehmende Berichte, dass die Arbeitslosenstatitik nicht stimmt, siehe diesen Bericht:
In diesem Bericht ( u.vielen anderen) wird davon geschrieben, dass der Fachkräftemangel auf wenige Branchen begrenzt ist:
http://www.n-tv.de/wirtschaft/Die-Maer-vom-Fachkraeftemangel-article3833126.html
Daher meine Frage, warum viele Politiker meines Erachtens die Verlautbarungen der Wirtschaft so unkritisch übernehmen? Ich studierte einst VWL und muss erkennen, dass viele Politiker eher rein betriebswirtschaftlich denken. Könnten Sie hierzu bitte künftig die anderen Sichtweisen berücksichtigen?
Wieviele Zuwanderer möchte Ihre Partei noch ins Land lassen? Wäre es nicht besser z.B. die Armut vor Ort zu bekämpfen?
Mit freundlichen Grüßen
Irmgard Resch
Sehr geehrte Frau Resch,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die ich gern beantworten und dafür nutzen möchte, die derzeit sehr scharf geführte Debatte um Zuwanderung vor
allem aus Rumänien und Bulgarien zu versachlichen.
Zuerst möchte ich gern auf folgenden Umstand hinweisen: Die meisten Menschen, die nach Deutschland zuwandern, sind EU-BürgerInnen und habendamit das Recht, hier zu arbeiten bzw. Arbeit zu suchen und zu diesem Zweck auch hier zu wohnen (Arbeitnehmerfreizügigkeit). Im ersten Halbjahr 2013 waren 62% der zugewanderten Menschen EU-BürgerInnen (Quelle: Wanderungsmonitoring des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, 1. Halbjahr 2013, S. 6).Diese neu gewonnene Freiheit, das Recht in inzwischen fast jedem EU-Land arbeiten und leben zu dürfen, bringt für sehr viele EU-BürgerInnen - auch aus Deutschland - neue interessante und spannende Möglichkeiten. Diese werden gerne und von vielen Bürgerinnen und Bürgern in Anspruch genommen, und zwar aus allen EU-Staaten, inklusive der Bundesrepublik.
Zurück zu Ihrer Frage: Die meisten Zuwanderer stammten aus den Euro-Krisenstaaten, daher kann von einer Masseneinwanderung aus Rumänien und Bulgarien keine Rede sein. Die seit dem 01.01.2014 geltende volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Personen aus diesen Staaten wirdjedoch voraussichtlich zu einem Anstieg der Einwanderung führen.Ein großer Teil der eingewanderten Personen aus Rumänien/ Bulgarien kommt auf dem deutschen Arbeitsmarkt gut zurecht,über die Hälfte istmittel- oder hochqualifiziert.(Quelle: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB Kurzbericht 16/ 2013, S. 3) So gehen die allermeisten einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nach, die Arbeitslosigkeit liegt etwa auf dem allgemeinen Niveau in Deutschland und die Bezug vonLeistungen nach SGB II liegt nur geringfügig über dem Bevölkerungsdurchschnitt und weit unter dem anderer Zuwanderergruppen. Die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit könnte dazu beitragen, dass der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten weiter steigt und Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit zurückgedrängt werden.
Neben den gut integrierten ArbeitnehmerInnen gibt es unter den Zuwandernden aus Rumänien und Bulgarien aber natürlich auch diejenigen, die sich bislang in eher prekären Erwerbs- und Lebenslagen befinden, mitunter über keinen Schul- oder Berufsabschluss verfügen und bisher kaum Zugang zum Arbeitsmarkt hatten. Diese Menschen benötigen hier wie dort Hilfe zur Selbsthilfe und Schutz vor Ausbeutung. Dazu bedarf es Maßnahmen der Sprachförderung, eine bessere Anerkennung ausländischer Qualifikationen und die Förderung beruflicher Aus- und Weiterbildung.
Über diesen rein deutschen Blickwinkel hinaus finde ich die steigende Anzahl rumänischer und bulgarischer Zuwanderer nur aus einem Grund besorgniserregend: was wird der Weggang der vielen qualifizierten Personen (sog. "Braindrain" oder Talenteschwund) mittel- und langfristig für ihre Heimatstaaten bedeuten? Aus dieser Perspektive heraus ist es richtig, dass Rumänien und Bulgarien Unterstützung vor Ort brauchen, um den Menschen bessere wirtschaftliche Perspektiven bieten zu können. Hier ist vor allem die EU am Zuge, die mit den Strukturfonds EFRE (Europäischer Fonds für regionale Entwicklung) und ESF (Europäischer Sozialfonds) bereits seit langem Programme zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bereit stellt. Offensichtlich sind die Impulse daraus aber noch zu schwach, um Armutsmigration zu vermeiden.
Insgesamt leisten nach Deutschland zugewanderte Menschen einen großen
Beitrag in Bereichen wie etwa dem Gesundheits- und Sozialwesen; Stellen,
die ansonsten nicht besetzt werden könnten, weil es den deutschen
Arbeitssuchenden, die längerfristig keine Beschäftigung finden, zumeist
an den notwendigen Qualifikationen mangelt. Es ist klar, dass auch diese
Menschen mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt brauchen und stärker
gefördert werden sollten, z.B. durch berufliche Weiterbildungen.
Die Aussagen von WirtschaftsvertreterInnen in diesen Fragen nehme ich kritisch zur Kenntnis und beziehe sie in Meinungsbildungsprozesse selbstverständlich mit ein, genau so wie Stellungnahmen von Gewerkschaften oder Forschungsinstituten. In der aktuell geführten Debatte sind jedoch leider auch viele unrichtige Behauptungen aufgestellt worden. Ich hoffe, mit meiner Antwort hier an dieser Stelle das eine oder andere richtig gestellt zu haben.
Mit freundlichen Grüßen,
Stefan Gelbhaar