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Sebastian Edathy
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Frage von Oliver L. •

Frage an Sebastian Edathy von Oliver L. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrter Herr Sebastian Edathy,

das wir bei uns inzwischen nur mehr eine "Zuschauerdemokratie" haben, ist den meisten Bürgern inzwischen klar.

Aber es ist leider noch schlimmer: Wie Naomi Wolf im "The Guardian" am 24.04.07 feststellt erfolgt der Umbau einer offenen Gesellschaft jedesmal geradezu nach einem "Masterplan"...
+ http://www.guardian.co.uk/usa/story/0,,2064157,00.html (engl. Original)
+ http://annakuehne.twoday.net/stories/3764329/ (deutsch. Übersetzung)

Immer mehr Bürger fragen sich inzwischen, ob wir nicht alle entscheidenden Schritte zur Ebnung des Weges in einen Unrechtsstaat ebenso einleiten: Öffnung des Postgeheimn. (Vorratsdatensp.), Unverletzl. der Wohnung (Bundestrojaner), unnötige Verschärfung des Waffenrechts (Kriminalisierung der Kinderzimmer), Öffnung des Bankengeheimnis, Lauschangriff, präventive ED-Behandlung aller unbescholtenenen Bürger (Ausweise) und vieles mehr...

Vor diesem Hintergrund und dass nun auch EU-Richtlinien, die durch ein sog. EU Parlament (welches ja keins ist, da es nicht vom Volk gewählt wurde) vorgegeben werden, und die im Lande ohne eine Zustimmung der Mehrheit der Bürger einfach von der Regierung umgesetzt werden, ist die in Art. 1 genanne "Souveränität des Volkes" in den Augen vieler nurmehr eine Farce. Man wird den Eindruck nciht los, das der Staat nur noch die Regierung ist.

Aber der Staat, das sollen nach dem Willen des Grundgesetzes die Bürger sein! Die Regierung ist bloß eine kleine Gruppe beauftragter Personen, die den Willen dieser Bürger umsetzen soll. In der Realität ist es nicht so.

Meine zwei Fragen daher:
(1) Finden Sie (und ihre Koll.) die derzeit beobachtbare Entwicklung nicht auch als sehr besorgniserregend für die jetzt schon angeschlagene Demokratie?

(2) Wann wird für die Entscheidung aller wichtigen gesellschaftlichen Fragen der Volksentscheid auf Bundesebene für mehr direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild eingeführt?

Mit freundlichen Grüßen,

Portrait von Sebastian Edathy
Antwort von
SPD

Sehr geehrter Herr Ludwig,

Ihre Ausführungen und Fragen bezüglich des Zustandes bzw. der Fortentwicklung der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland habe ich mit Interesse gelesen. Für den Verweis auf den Artikel von Naomi Wolf in der britischen Zeitung „The Guardian“ möchte ich Ihnen ebenfalls danken. Ich habe mir den Text angeschaut, teile jedoch nicht die Befürchtungen, die Frau Wolf in ihrem Beitrag formuliert.

Demokratie ist per definitionem ein Wechselspiel zwischen verschiedenen Kräften, teilweise gegensätzlichen Meinungen und unterschiedlichen Gesellschaftsvorstellungen. Den Rahmen für alles politische Handeln gibt uns unser Grundgesetz vor – es regelt nicht nur die Aufgaben und Verantwortlichkeiten der verschiedenen politischen Akteure, es garantiert jedem Menschen im Bundesgebiet zudem wesentliche Rechte. Die Einhaltung dieser Rechte wahrt die Justiz.

Unser politisches System mit der gegenseitige Kontrolle unserer Verfassungsorgane, den Parlamenten als zentralen Ort für Entscheidungsfindungen und dem Grundgesetz als Grundlage allen politischen Handelns hat sich bewährt. Nach den in den letzten 60 Jahren verfestigten Rechtsstaatsstrukturen halte ich es jedoch für angemessen, neue politische Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger auf Bundesebene zu prüfen. Dies entspricht dem sozialdemokratischen Menschenbild und Verständnis von Freiheit: Die Menschen sollten in politische Entscheidungsfindungen auch während laufender Wahlperioden stärker einbezogen werden. Auf Drängen der SPD-Verhandlungsführer wurde aus diesem Grund auch eine entsprechender Prüfungsauftrag in den Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und der SPD auf Bundesebene aufgenommen.

Denkbar wäre als erster Schritt die Einführung einer Volksinitiative: Bürgerinnen und Bürger könnten so nach Erreichen eines zu bestimmenden Unterschriften-Quorums ein Anliegen als Vorlage direkt in den Bundestag zur Beratung einbringen. Die letztendliche Entscheidung läge nach wie vor bei den gewählten Volksvertretern. Warum CDU und CSU diesem moderaten Schritt nicht zustimmen, verstehe ich nicht. Sie finden meine diesbezügliche Auffassung übrigens auf meiner Homepage (www.edathy.de) im Rahmen eines vor wenigen Monaten erschienenen Buchbeitrages.

Bereits 1993 hat die SPD unter dem damaligen Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel im Anschluss an die Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission einen Gesetzentwurf eingebracht, der ein dreistufiges Verfahren bis zum Volksentscheid vorsah. In den vergangenen Legislaturperioden hat die rot-grüne Koalition Gesetzentwürfe zur Einführung von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz eingebracht. Die hierfür notwendige Grundgesetzänderung wäre jedoch nur mit einer Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat möglich, welche jedoch aufgrund der damaligen Mehrheitsverhältnisse in beiden Gremien nicht erreicht werden konnte.
Heute sieht es wegen der ablehnenden Haltung von CDU und CSU nicht viel besser aus. Die Union hat erst vor wenigen Tagen weitere Änderungen des Grundgesetzes in dieser Wahlperiode abgelehnt. Das betrifft nicht nur das Thema direkte Demokratie, sondern beispielsweise auch die Aufnahme der ausdrücklichen Erwähnung von Kinderrechten in unsere Verfassung. Ich bedauere diese Haltung ausdrücklich und halte sie für falsch.

Entgegen Ihrer Annahme wird übrigens das Europäische Parlament selbstverständlich alle fünf Jahre von den Bürgern der EU gewählt, also nicht etwa ernannt. Dass das EU-Parlament "keins ist, da es nicht vom Volk gewählt wurde", wie Sie schreiben, ist entsprechend unrichtig. Als einwohnerstärkstes Land stellt Deutschland derzeit zudem die größte Zahl der Abgeordneten im Vergleich zu den anderen 26 Mitgliedsländern. Auch dies entspricht dem Demokratieprinzip.

Zuletzt noch eine kurze Notiz zu den meines Erachtens doch etwas zu pessimistischen Zukunftsvisionen von Frau Wolf. Die Sicherheits-Gesetzgebung in den USA in den Folgejahren nach dem 11. September 2001 hat sicherlich zu Einschränkungen der Bürgerrechte geführt und ist in Teilen mit unserem Rechtsstaatsverständnis nicht kompatibel (Guantanamo). Auch aussenpolitisch hat die Regierung Bush Maßnahmen ergriffen, denen ich nicht zustimmen kann (Irak-Krieg). Die Perspektive, die Frau Wolf für die Vereinigten Staaten aufzeichnet, erscheint mir jedoch zu dramatisch.

Zwischen den Vereinigten Staaten und den autoritären Staaten, auf die Frau Wolf in Ihrem Artikel vergleichend Bezug nimmt, ist der entscheidende Unterschied, dass erstere nach wie vor eine lebendige Demokratie beheimaten. Im November 2008 stehen dort Präsidentschaftswahlen an, für die die meisten aktuellen Umfragen ein Nein zu einer weiteren republikanischen Administration vorhersagen. Zudem haben die Demokraten bei den sogenannten Mid-Term Elections im November 2006, bei denen ein Drittel der Senatoren und das gesamte Repräsentantenhaus neu gewählt worden sind, durch große Zugewinne die Mehrheit in beiden Häusern erreichen können. Dies ist nicht nur als deutliche Kritik an der Amtsführung von Präsident Bush zu verstehen, sondern stellt seine teilweise Entmachtung dar, da er innenpolitisch nunmehr nur noch eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit besitzt.

So schlecht ist es also um das Funktionieren der Demokratie nicht bestellt - auch nicht in den USA.

Erlauben Sie mir folgende Schlussbemerkung: Dass Roland Koch am 27. Januar 2008 eine klare Niederlage einstecken musste, ist ein bemerkenswertes hiesiges Beispiel dafür, dass wir keinesfalls in einer "Zuschauerdemokratie" leben, wie Sie behaupten, sondern eine funktionierende Gesellschaftsordnung haben, die gewährleistet, dass von den Bürgerinnen und Bürgern Macht auf Zeit verteilt wird - und auch wieder entzogen werden kann. Als Beitrag zur demokratischen Kultur in unserem Land betrachte ich nicht zuletzt das Projekt "www.abgeordnetenwatch.de".

Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Edathy, MdB