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Saskia Esken
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Frage von Niklas M. •

Frage an Saskia Esken von Niklas M. bezüglich Migration und Aufenthaltsrecht

Wie kann es sein, dass sie sich in der Öffentlichkeit für die Aufnahme von einer vierstelligen Zahl Flüchtlingen aus dem Lager Moria aussprechen, aber gleichzeitig dem Antrag der Grünen bezüglich der Aufnahme 5000 hilfsbedürftiger Flüchtlinge aussprechen?

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Sehr geehrter Herr Meinel,
Sie fragen mich, wie es zusammenpasst, dass ich als SPD-Parteivorsitzende die Aufnahme einer erheblichen Zahl von Geflüchteten aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos in Griechenland fordern und gleichzeitig als Abgeordnete im Bundestag gegen einen Antrag der Grünen für die Aufnahme von 5000 Geflüchteten aus Moria stimmen kann. Das ist in der Tat nicht einfach zu verstehen, und ich will versuchen, es zu erklären.
Meine Überzeugung ist und bleibt, dass wir die humanitäre Aufgabe haben, geflüchtete Menschen in Europa aufzunehmen. Wir haben die Pflicht, diese Menschen bis zur Klärung ihrer Perspektive menschenwürdig unterzubringen und zu versorgen. Die Zustände auf Lesbos werden diesem Anspruch in keiner Weise gerecht, und sie waren schon vor dem Brand des Lagers in Moria katastrophal. Die Menschen dort sind gleichzeitig von Krankheiten, Corona, Obdachlosigkeit, Kälte und Hunger bedroht. Der Brand und die damit zusammenhängen Vorkommnisse sind der vorläufige Tiefpunkt einer unwürdigen Entwicklung, die Europa beschämen muss. Seit Jahren lassen wir uns mit der Notwendigkeit einer europäischen Lösung in dieser Frage hinhalten und nehmen Zustände hin, die nicht hinnehmbar sind.
Ich habe mich deshalb als SPD-Parteivorsitzende auf Regierungsebene schon im März erfolgreich dafür eingesetzt, dass Deutschland in einer europäischen Koalition der Willigen eine große Zahl unbegleiteter Minderjähriger und kranker Kinder mit ihren Kernfamilien aufnimmt. Mittlerweile sind auf diesem Weg etwa 1000 Menschen in Deutschland aufgenommen worden.
Nach dem Brand in Moria fand ich es nicht mehr länger tragbar, auf eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage zu warten, und ich habe deshalb gefordert, dass Deutschland nochmals eine erhebliche Zahl von Menschen von den Lagern auf den griechischen Inseln in einem eigenständigen Kontingent aufnimmt. Die Verhandlungen zu diesem Kontingent waren hart, aber sie haben abermals die Möglichkeit eröffnet, mehr als 1500 Geflüchteten aus der Situation auf den Inseln herauszuholen und ihnen einen sicheren Hafen in Deutschland zu bieten.
Um Ihnen zu erklären, warum ich dennoch gegen den Antrag der Grünen gestimmt habe, muss ich ein wenig ausholen:
Unsere von den Parteien dominierte parlamentarische Demokratie funktioniert so, dass wir, da normalerweise keine Partei mehr als 50% der Stimmen erhält, zu Beginn einer Legislaturperiode abhängig vom Wahlergebnis und der Zusammensetzung des Parlaments eine Koalition aus zwei oder mehreren Parteien bilden, die in dieser Legislatur zusammenarbeiten wollen. In einem Koalitionsvertrag, den die Parteien miteinander vereinbaren, wird festgeschrieben, dass Koalitionsfraktionen im Bundestag einheitlich abstimmen müssen, dass also die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen den Anträgen der Opposition nicht zustimmen dürfen. Abgeordneten, die sich nicht an diese Vereinbarung halten, droht der Ausschuss aus der Fraktion.
Ohne diese Vereinbarung ist zuverlässiges Regieren kaum möglich. Es mag sein, dass andere Formen einer parlamentarischen Demokratie möglich und vielversprechend sind, in denen die Abgeordneten wirklich frei über ihr Stimmverhalten zu einem Antrag entscheiden können und in denen das Prinzip der wechselnden Mehrheiten gibt, in dem für verschiedene Anträge unterschiedliche Mehrheiten aus unterschiedlichen Parteien zustande kommen können. Doch dies ist z.Z. nicht die Realität in der Bundesrepublik.
Oppositionsparteien wissen um diese Regelung. Es ist keine Seltenheit, dass eine Oppositionspartei Anträge in den Bundestag einbringt, die sich zu 100% mit der Forderung einer Regierungspartei aus der Oppositionszeit decken, was dazu führt, dass diese Partei nun in der Regierungsverantwortung quasi gegen ihren eigenen Antrag aus der Vergangenheit stimmen muss, um nicht gegen die Koalitionsvereinbarung zu verstoßen. Damit machen die Oppositionsparteien öffentlichkeitswirksam auf ein politisches Thema aufmerksam, und das ist auch ihr gutes Recht.
So verhält es sich auch mit dem von Ihnen angesprochenen Antrag der Grünen: Ich war mit den meisten politischen Forderungen in diesem Antrag einverstanden. Meine Überzeugung zum Thema Aufnahme von Geflüchteten aus Moria habe ich in verschiedenen Stellen und auch hier dargelegt. Doch die SPD stellt nicht alleine die Bundesregierung, wir sind in einer Koalition mit der Union, die in diesem Thema eine andere, teilweise diametral entgegengesetzte Meinung vertritt. Insofern müssen wir andere Wege nutzen als die Zustimmung zu einem Oppositionsantrag, um zu guten Lösungen (oder zumindest zu einem akzeptablen Kompromiss) zu kommen.
Hätte ich und hätten andere Abgeordnete der SPD dem Antrag der Grünen zugestimmt, hätten wir vielleicht nicht gleich die Koalition gefährdet, solange der Antrag keine Mehrheit bekommen hätte. Das von mir beschriebene Kontingent, das wir im Verhandlungsweg ermöglicht haben, wäre damit aber Makulatur gewesen. Meine Zustimmung wäre also allenfalls eine symbolische Geste gewesen. Ich bin der Überzeugung, dass die Menschen von uns erwarten, dass wir für echte Probleme echte Lösungen finden und nicht nur symbolisch handeln.
Hätte der Antrag eine Mehrheit bekommen, wenn die SPD-Fraktion als Ganzes zugestimmt hätte? Mit weiteren Stimmen wäre das denkbar - zu glauben, dass die Bundesregierung den Antrag dann hätte umsetzen müssen, ist aber arg blauäugig, denn mit einem solchen Ausgang wäre die Koalition beendet gewesen und die Bundesregierung gänzlich handlungsunfähig, und das in Zeiten, in denen die Menschen – besonders Angesicht der Corona-Pandemie – eine handlungsfähige Regierung erwarten.
Meine Entscheidung war also eine Abwägung: Wie kann ich im Anbetracht der gegebenen Umständen das Meiste für mein Anliegen (die Aufnahme von Geflüchteten) erreichen. Die Entscheidung, einen Antrag, den ich inhaltlich wünschenswert finde, abzulehnen, ist mir nicht leicht gefallen, aber ich hielt und halte die Entscheidung aus den oben genannten Gründen für richtig und gerechtfertigt.
Ich sage aber deutlich: Mir und der SPD insgesamt reichen die bisher erreichten Kompromisse nicht. Die geflüchteten Menschen, die viel zu lange schon in unwürdigen Zuständen und ohne jede Perspektive in überfüllten Lagern in Griechenland ausharren, benötigen auch weiterhin unsere Solidarität und Hilfe – ebenso wie die griechische Bevölkerung, die mit der Situation vor Ort überfordert ist.
Ich freue mich sehr über die Hilfsbereitschaft der über 180 deutschen Städte und Gemeinden im Bündnis „Sichere Häfen“ und über die Unterstützung zahlreicher Bundesländer, die die Position der SPD in der Bundesregierung stark machen. Überwältigend finde ich auch die große Anteilnahme der Menschen in Deutschland, wie etwa Ihre.
Ich erwarte vom Bundesinnenminister, dass er die Aufnahmebereitschaft vieler Bundesländer und Kommunen in Deutschland jetzt endlich konstruktiv aufgreift. Die SPD will, dass Deutschland zusätzlich zu den bislang vereinbarten Aufnahmen einem maßgeblichen Anteil dieser geflüchteten Menschen schnell, organisiert und kontrolliert Aufnahme, Schutz und Perspektive bietet, nach Möglichkeit gemeinsam mit europäischen Partnerländern. Deshalb werbe ich weiter um Unterstützung für eine gemeinsame Initiative aufnahmebereiter europäischer Partnerländer. Sobald diese steht, wird sich Deutschland auch daran beteiligen, und zwar entsprechend seiner Kraft und Größe.
Zudem fordern wir weiterhin, dass Deutschland im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft alle Möglichkeiten nutzt, die Idee einer solidarischen europäischen Asylpolitik endlich gemeinsam in die Praxis umzusetzen.

Beste Grüße

Saskia Esken

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