Frage an Sabine Dittmar von Jakob S. bezüglich Migration und Aufenthaltsrecht
Sehr geehrte Frau Dittmar,
am 04. März 2020 haben Sie gegen einen Antrag der Grünen im Bundestag gestimmt, 5000 besonders schutzbedürftige Menschen aus den Lagern für Geflüchtete auf den griechischen Inseln aufzunehmen.
Die unmenschlichen Umstände in den Lagern sind gut dokumentiert und müssen auch Ihnen bekannt sein. Gerade als Ärtztin sollte Ihnen bewusst sein, dass die Menschen auf den Inseln sofortige Hilfe benötigen und nicht darauf warten können, dass "für die Zukunft eine europäischen Lösung gefunden wird", wie es eine Regierungssprecherin formulierte. Auf diese europäische Lösung warten diese Menschen teilweise seit Monaten oder Jahre.
Daher möchte ich Sie fragen, warum Sie trotzdem gegen den Antrag gestimmt haben.
Mit freundlichen Grüßen
J. S.
Sehr geehrter Herr Schneider,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 16.03.2020.
Wie Sie bereits wissen, habe ich dem Antrag der Grünen nicht zugestimmt, obwohl das grundsätzliche Anliegen dessen voll und ganz in meinem Interesse lag und liegt. Ich möchte vorausschicken: Die Situation auf den griechischen Inseln ist absolut menschenunwürdig und inakzeptabel. Die Bundestagsfraktion und ich setzen uns mit aller Kraft und allem Engagement dafür ein, dass diese Situation ein Ende hat. Seit Monaten stehen wir deswegen dazu in ständigem Kontakt und Austausch mit unserem Koalitionspartner. In jeder Sitzung und in jedem Gespräch mit CDU/CSU in den letzten Wochen haben wir für die Aufnahme von Geflüchteten geworben.
Der niedersächsische SPD-Innenminister Boris Pistorius war einer der ersten Landesminister, der auf den griechischen Inseln war, um sich vor Ort einen Eindruck von der Situation zu machen. Er war der erste, der auf Bundesinnenminister Horst Seehofer zugegangen ist mit der Bitte, eine Aufnahme von Geflüchteten zu ermöglichen – entweder durch Deutschland alleine oder in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Staaten. Meine SPD-Kolleg*innen und ich haben diese Initiative von Boris Pistorius von Beginn an unterstützt und unsererseits bei unserem Koalitionspartner im Bundestag dafür geworben.
Lange Zeit hat unser Koalitionspartner sich gegen eine Aufnahme von Geflüchteten auf den griechischen Inseln gesperrt. Sie können sich nicht vorstellen, wie unfassbar frustrierend diese, über Wochen andauernde Blockadehaltung war. Zu Beginn des Jahres haben unsere Bemühungen jedoch endlich Wirkung gezeigt. Bundesinnenminister Seehofer hat uns signalisiert, dass er zwar einen deutschen Alleingang ablehne, jedoch eine europäische Lösung auf den Weg bringen wolle. Die Unionsfraktionen wollten ebenfalls mitziehen. Der Koalitionsausschuss vom 08.03.2020 hat sich darauf geeinigt und beschlossen, bis zu 1500 Kinder von den griechischen Inseln im Rahmen einer europäischen Initiative aufnehmen zu wollen. Die Zahl von 1500 ist nicht sonderlich hoch. Auch ich und meine Fraktion hätten uns deutlich mehr gewünscht und vorgestellt. Doch die Aufnahme 1500 geflüchteter Kinder ist besser als die Aufnahme gar keiner Geflüchteten. Es ist ein Anfang, ein erster Schritt.
Genau in dieser Situation – kurz bevor unsere wochenlangen Bemühungen und Überzeugungsarbeit vor dem Ziel standen, kurz bevor der Koalitionsbeschluss und damit die Unterstützung für Geflüchtete vor Ort in greifbarer Nähe war – haben die Grünen ihren Antrag in den Bundestag eingebracht, mit dem sie die Aufnahme 5000 Geflüchteter gefordert haben. In genau dieser Situation wären all unsere Bemühungen zunichte gemacht worden und wären der sich abzeichnende Koalitionsbeschluss und die europäische Lösung in weite Ferne gerückt, wenn wir dem Antrag der Grünen zugestimmt hätten. Das hat v.a. zwei wesentliche Gründe: Erstens, wir haben im Bundestag leider keine linke Mehrheit. Selbst wenn wir dem Antrag der Grünen zugestimmt hätten, wäre er dennoch mit dem Stimmen von CDU/CSU, FDP und AfD abgelehnt worden. Zweitens: Im Koalitionsvertrag haben wir vereinbart, dass die Koalitionsfraktionen einheitlich abstimmen. Hätten wir dem Antrag der Grünen zugestimmt, hätte unser Koalitionspartner darin einen Bruch des Koalitionsvertrages gesehen mit unabsehbaren Konsequenzen. Wenn er nicht direkt die Koalition aufgekündigt hätte, hätten CDU/CSU zum Beispiel beschließen können, künftige SPD-Vorhaben, zu blockieren oder abzulehnen. Es wäre mehr als fraglich geworden, ob wir die Grundrente oder die Einschränkung sachgrundloser Befristungen durch den Bundestag bekommen hätten. Oder CDU/CSU hätten entscheiden können, überhaupt keine Geflüchteten – in welcher Größenordnung auch immer – aufzunehmen und jegliche Bemühungen in diese Richtung sofort zu beenden.
Selbst nachdem wir den Antrag der Grünen abgelehnt haben, haben wir deutlich gespürt, wie die Skepsis unserer Koalitionspartners gegenüber einer Aufnahme Geflüchteter nach der Debatte und der Abstimmung im Bundestag wieder gestiegen ist. Unsere Sorge war groß, dass sie zu ihrer früheren Blockadehaltung zurückkehren könnten. Das heißt im Endeffekt: Hätten wir dem Antrag zugestimmt, wäre es zu keiner Aufnahme von Geflüchteten von den griechischen Inseln gekommen. Weder in Deutschland noch in Europa. Keine 5000 Geflüchteten, noch nicht mal ein einziger.
Um es noch einmal zu betonen: Ich habe den Antrag der Grünen also nicht abgelehnt, weil ich ihn inhaltlich falsch fand. Im Gegenteil: Auch wir als SPD wollen Geflüchtete aufnehmen und verteilen, um die Situation vor Ort zu entlasten. Und dafür setzen wir uns ein. Wir haben ihn abgelehnt, weil eine Unterstützung das Ziel unserer wochenlangen Bemühungen – nämliche eine konkrete europäische Lösung – deutlich gefährdet hätte und am Ende kein einziger Geflüchteter aufgenommen worden wäre. In der Zwischenzeit haben mehrere europäische Staaten ihre Unterstützung bei der Aufnahme Geflüchteter zugesagt. Die europäische Lösung, für die wir uns so lange eingesetzt haben, wird endlich Realität und ist auf dem Weg. Das ist ein wichtiger Schritt, um die menschenunwürdigen Verhältnisse auf den griechischen Inseln endlich zu beenden.
Kurz- und mittelfristig müssen wir Griechenland weiter und weitgehender unterstützen bei der Aufnahme und Versorgung Geflüchteter. Schon jetzt leistet Deutschland auf vielfältigen Wegen Unterstützung. Deutschland stellt zwischenzeitlich fast 2/3 der Beschäftigten der gemeinsamen Europäischen Asylagentur, die auch in Griechenland aktiv ist. Wir haben Griechenland Hilfsgüter (Decken, Betten, Erste-Hilfe-Kits) im Umfang von über 1,5 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. Langfristig brauchen wir ein neues Europäisches Asylsystem, das die Aufnahme und Versorgung Geflüchteter neu regelt und die Verantwortungen und Aufgaben europaweit solidarisch verteilt. Dafür werden wir uns als nächstes mit ganzer Kraft einsetzen.
Sie merken hoffentlich, dass diese Abstimmung nicht einfach für mich und meine Fraktion war und welche Weichen es mit der Wahl im nächsten Jahr zu stellen gilt, um auf diesem Feld rasche Fortschritte machen zu können.
Mit freundlichen Grüßen
Sabine Dittmar