Was unternehmen sie um die Familien meiner Freunde und Kollegen aus Afghanistan zu holen und vor den Taliban zu retten?
Sehr geehrter Herr G.
haben Sie vielen Dank für Ihre Frage, in der Sie mutmaßlich auf die Aufnahmemöglichkeiten afghanischer Ortskräfte rund um die Machtübernahme der Taliban im Jahr 2021 zu sprechen kommen.
Von 2001 bis 2021 hat sich Deutschland mit umfangreichen militärischen und zivilen Mitteln beim Wiederaufbau in Afghanistan engagiert. Bei dieser wichtigen und anspruchsvollen Unterstützungsarbeit standen uns stets Afghaninnen und Afghanen zur Seite, die in den verschiedensten Aufgaben – unter anderem als Sprachmittler, Kraftfahrer, Reinigungskräfte, Wachpersonal oder politische Berater - sehr wertvolle Arbeit zum Aufbau und der Stabilisierung ihres Landes geleistet haben und weiter leisten - die sogenannten afghanischen Ortskräfte.
Allen denjenigen afghanischen Ortskräften, die aufgrund ihrer Tätigkeit für die deutschen Ressorts in Afghanistan bedroht waren, hat Deutschland eine Perspektive bieten wollen. Daher haben wir das etablierte Verfahren zur Aufnahme von gefährdeten afghanischen Ortskräften in Deutschland fortgeführt. Dies hat alle Personen eingeschlossen, die unmittelbar in einem Arbeitsverhältnis für ein deutsches Ressort beziehungsweise bei einer Durchführungsorganisation der deutschen Entwicklungszusammenarbeit oder einer deutschen politischen Stiftung tätig waren. Das Aufnahmeverfahren unterlag einer individuellen Prüfung eines jeden Einzelfalls.
Von 2013 an beschäftigte die Bundeswehr rund 1.300 Ortskräfte in Afghanistan. Im April 2021 waren im ressortgemeinsamen Ortskräfteverfahren 526 ehemalige und aktive Ortskräfte berechtigt, über eine individuelle Gefährdungsanzeige die Teilnahme am Aufnahmeverfahren zu beantragen. Aufgrund der besonderen Situation in Folge des Abzugs der Bundeswehr und anderer NATO-Partner aus Afghanistan wurde der Kreis der Begünstigten um bis zu 450 ehemalige Ortskräfte erweitert.
Für die Ortskräfte der Bundeswehr und des deutschen Polizeiprojekts wurden alle Möglichkeiten genutzt, eine beschleunigte und flexible Bearbeitung ihrer Gefährdungsanzeigen durchzuführen und ihnen bei Vorliegen einer individuellen Gefährdung mit ihren Kernfamilien (Ehepartner und eigene, minderjährige Kinder) im Rahmen einer eigenverantwortlichen Ausreise eine schnelle Aufnahme in Deutschland zu ermöglichen.
Für die Ortskräfte aller am deutschen Afghanistanengagement beteiligten Ressorts wurde durch sogenannte Ortskräftebüros sichergestellt, dass ehemalige Ortskräfte auch zukünftig in Afghanistan in einem sicheren Umfeld ihre Gefährdungsanzeigen einreichen und Informationen zum ressortgemeinsamen Ortskräfteverfahren erhalten konnten.
Im Sommer des Jahres 2021, als sich die Lage dramatisch veränderte und die Taliban wieder die Macht übernahmen, stand Deutschland nicht tatenlos da. Unsere Priorität war es, deutsche Staatsbürger, afghanische Ortskräfte und besonders gefährdete Menschen in Sicherheit zu bringen. Es wurden intensive Evakuierungsaktionen organisiert, bei denen die Bundeswehr eine zentrale Rolle spielte. Im August 2021 konnte die Luftwaffe in einer der größten Evakuierungsmissionen Deutschlands über 5.300 Menschen aus Kabul retten.
In Bezug auf die Menschen, für die Deutschland besondere Verantwortung trägt, waren sich Deutschland der moralischen Verpflichtung zur Unterstützung, auch nach dem Ende der militärischen Luftbrücke, bewusst. Das sind deutsche Staatangehörige, Ortskräfte im Geschäftsbereich der Bundesregierung ab 2013 sowie besonders gefährdete und von der Bundesregierung identifizierte Afghaninnen und Afghanen, denen bis zum Ende der militärischen Evakuierungsaktion am 26. August 2021 eine Ausreise mit der Bundeswehr in Aussicht gestellt wurde. Eingeschlossen sind dabei auch Angehörige der sogenannten Kernfamilie dieser Personen.
Das Ende der militärischen Luftbrücke bedeutete zudem nicht das Ende der Unterstützung für die Menschen, für die wir ganz besonders in der Verpflichtung stehen. Daher arbeitete die Bundesregierung weiter intensiv an Lösungen, um diesen Menschen bei der sicheren Ausreise aus Afghanistan zu unterstützen. Hierzu gehörten beispielsweise Verhandlungen über die Wiederaufnahme des zivilen Betriebs des Flughafen Kabuls. Wir behielten auch Personen im Auge, die ihre Visaanträge zum Familiennachzug an den deutschen Auslandsvertretungen in Neu-Delhi und Islamabad stellten.
Der vom Deutschen Bundestag am 8. Juli 2022 eingesetzte 1. Untersuchungsausschuss der 20. Wahlperiode befasst sich mit den Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan und der Evakuierung des deutschen Personals, der Ortskräfte und anderer betroffener Personen. Betrachtet wird der Zeitraum vom 29. Februar 2020 – dem Abschluss des sogenannten Doha-Abkommens zwischen der US-Regierung unter Ex-Präsident Donald Trump und Vertretern der Taliban – bis zum Ende des Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan am 30. September 2021. Der Ausschuss hat den Auftrag, sich ein Gesamtbild zu den Erkenntnissen, dem Entscheidungsverhalten und dem Handeln der Bundesregierung einschließlich involvierter Bundesbehörden und Nachrichtendienste zu verschaffen, inklusive des Zusammenwirkens zwischen deutschen und ausländischen Akteuren. Ebenfalls aufgeklärt werden soll, inwiefern die Bundesregierung auf die Umsetzung des Doha-Abkommens und die Gestaltung des Truppenabzugs durch die USA Einfluss genommen hat. Darüber hinaus werden auch ganz konkret Fragen rund um die Evakuierung von Ortskräften aus Afghanistan behandelt. Anhand der Untersuchungsergebnisse soll der elfköpfige Ausschuss zudem in seinen Schlussfolgerungen empfehlen, welche Konsequenzen aus seinen gewonnenen Erkenntnissen zu ergreifen sind. Weitere Informationen dazu finden Sie unter: https://www.bundestag.de/ausschuesse/untersuchungsausschuesse/ua01.
Mit freundlichen Grüßen!
Reinhard Brandl