Frage an Reimer Böge von Bernhard B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Abgeordneter,
die Türkei hat durch eine Beschwerde über eine kulturelle Veranstaltung in Dresden dafür gesorgt, dass die fördernde EU ihren Programmhinweis von ihrer Webseite entfernt hat.
Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um künftig diese reflexhaften Reaktionen unserer EU-Organisationen zu vermeiden? Wieso hat ein nicht EU-Staat solch eine große nicht demokratisch legitimierte Einflussmöglichkeit auf unsere Institutionen, ohne dass die demokratisch gewählten Vertreter involviert werden? Wie vermeiden Sie künftig, dass die Rolle und das Verhalten der Türkei weiter zu solch negativen Entscheidungen und damit anti-europäischen Stimmungen in der Bevölkerung führt?
Mit freundlichen Grüßen
B. B.
Sehr geehrter Herr Büxter,
hiermit danke ich Ihnen für Ihre Anfrage vom 24.04.2016.
Nach Protesten des türkischen EU-Botschafters, hat die EU-Kommission die Ankündigung zu dem Konzertprojekt der Dresdener Philharmoniker "aghet ‐ ağıt" von ihrer Webseite genommen. Eine neue Projektbeschreibung wird, nach Aussage der Kommission, in den nächsten Tagen veröffentlicht werden.
Kurz zum Hintergrund: Gemäß der Verordnung (EG) Nr. 58/2003 des Rates, hat die Kommission die Exekutivagentur Bildung, Audiovisuelles und Kultur (EACEA) seit 2009 u.a. mit der Durchführung für Maßnahmen in den Bereichen Bildung, Audiovisuelles und Kultur betraut. Das von der EACEA verwaltete Programm "Kreatives Europe" zielt darauf ab, die europäische audiovisuelle, Kultur- und Kreativwirtschaft zu unterstützen. Die verschiedenen Förderbereiche sollen u.a. Kultur- und Kreativschaffende anregen europaweit zu agieren. Im Rahmen der Verordnung (EU) Nr. 1295/2013 des EPs und des Rates vom 11. Dezember 2013 wurde das Programm für bilaterale oder multilaterale Kooperationsaktionen mit Drittstaaten (wie der Türkei) geöffnet. In einem Gespräch mit dem Kabinett von Kommissionspräsident Juncker wurde mir bestätigt, dass das konkrete Projekt in Dresden mit 200.000 Euro unterstützt werde, wovon eine Beteiligung von über 40.000 Euro auf die Türkei entfiele.
Ich finde, dass diese Entscheidung der Kommission, den Eintrag auf Ihrer Webseite zu nehmen, nicht richtig war. Das habe ich auch entsprechend kommuniziert. Denn in Artikel 13 der "Charta der Grundrechte der Europäischen Union", der ein fundamentaler und einklagbarer Charakter in der EU zukommt, wird explizit auf die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft in der EU hingewiesen. Ich bin überzeugt, dass die Türkei gut beraten wäre, die dunkle Seite ihrer Geschichte aufzuarbeiten und zu einer Versöhnung beizutragen. Doch entgegen allen bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs der Auffassung, dass es sich bei dem Massaker an den Armeniern 1915 nicht um einen Genozid gehandelt habe.
Das Europaparlament hat, wie der Deutsche Bundestag, die Türkei verschiedentlich aufgefordert, die Verfolgung von Armeniern im Osmanischen Reich als "Völkermord" anzuerkennen. Das Projekt in Dresden soll gerade einer solchen Aufarbeitung des Völkermords dienen und ist ein Angebot zur Verständigung und Versöhnung. Wir Europaabgeordneten stimmten am 16.04.2015 mit breiter Mehrheit für eine entsprechende Resolution, die den "Völkermord" klar benennt. Die Anerkennung der Ereignisse soll den Weg für eine "aufrichtige Aussöhnung zwischen dem türkischen und armenischen Volk" bereiten, heißt es in unserer Resolution. Wir Europaparlamentarier unterstützen die Äußerungen von Papst Franziskus, der die Armenier als Opfer des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte.
Mit freundlichen Grüßen
Reimer Böge