Frage an Reimer Böge von Hildegard H. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Böge,
als Entscheidungshilfe zur EU-Wahl bitte ich um Ihren Standpunkt zur
letztendlich Demokratie-gefährdenden TTIP. Ich frage auch der vielen, vielen Kinder wegen, die ich im Laufe meines Lebens betreut habe und noch betreue.
Was nützen diesen späteren Erwachsenen Arbeitsplätze (versprochen im FHA (Freihandelsabkommen)), wenn die Welt, in der sie leben, krank macht?
Sie, Herr Böge, wissen natürlich von den fatalen Gefahren für Umwelt und Leben - und für Demokratie! Oder?
Eine Demokratie funktioniert nur mit größter Offenheit; bereits jetzt
wird diese Offenheit in skandalöser Weise unterlaufen, indem Verhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Zudem teilen die Verhandlungsführer nur das den EU-Abgeordneten "life", d.h. wohl mündlich, mit, was sie für mitteilungswürdig halten.
Bitte senden Sie mir Ihre Stellungnahme. Sie wird entscheidend für meine Wahl im Mai sein.
Freundliche Grüße,
Hildegard Harries
Sehr geehrte Frau Harries,
vielen Dank für Ihre Anfrage an Herrn Böge zum transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP), die ich in seinem Auftrag gerne beantworten möchte.
Herr Böge ist ein prinzipieller Befürworter des geplanten Abkommens, da die potentiellen Wohlfahrtsgewinne durch den Abbau von Zöllen und nichttarifären, regulatorischen Handelshemmnissen für beide Seiten beträchtlich sind. Die von Ihnen und vielen anderen Bürgern an ihn herangetragene Sorge, durch das TTIP könnten strenge europäische oder deutsche Vorschriften zugunsten niedrigerer US-Standards aufgeweicht werden, nimmt er jedoch sehr ernst. Deshalb wird er dem Verhandlungsergebnis - von dem man aktuell übrigens noch sehr weit entfernt ist - seine Zustimmung verweigern, sofern sich die darin enthaltenen Bestimmungen negativ für die europäischen Bürgerinnen und Bürger oder die Wirtschaft auswirken würden.
Dies vorausgeschickt bedarf es jedoch auch einiger Klarstellungen, denn die von vielen Medien und Interessengruppen geschürten Ängste mit Blick auf die Absenkung der deutschen bzw. europäischen Standards durch das Abkommen entsprechen nicht den Tatsachen. So geht es bei den TTIP-Verhandlungen nicht um eine Verständigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, sondern um die Aufdeckung unnötiger Unterschiede bzw. Doppelregulierungen und eine bessere Abstimmung des Vorgehens in Schlüsselbereichen. Profitieren sollen davon beispielsweise die Medizingeräte-, Kosmetik-, Arzneimittel-, Chemie-, Pestizid- und Fahrzeugindustrie sowie die Kommunikationsbranche. Durch das TTIP werden europäische Regelungen und Rechtsvorschriften jedoch weder automatisch geändert noch außer Kraft gesetzt oder gar aufgehoben. Entgegen weitverbreiteter Behauptungen stehen strenge Vorschriften in sensiblen Bereichen - insbesondere zu Hormonen, zum Schutz des Lebens und der Gesundheit des Menschen, der Gesundheit und des Wohlergehens der Tiere, sowie der Umwelt und der Verbraucherinteressen - überhaupt nicht zur Disposition. Hormonbehandeltem Fleisch aus den USA wird auch weiterhin der Zugang zum europäischen Binnenmarkt verwehrt bleiben. Auch die europäischen Zulassungsverfahren für genetisch veränderte Organismen (GVO) werden mit dem TTIP beibehalten. Somit dürfen auch künftig nur diejenigen GVO auf den europäischen Markt gebracht werden, die zuvor von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) genehmigt worden sind.
Auch dem Vorwurf, die Verhandlungen seien undemokratisch und intransparent, muss Herr Böge widersprechen. Die Verhandlungen selbst finden zwar hinter verschlossenen Türen statt. Dies ist allerdings gängige Praxis, um für beide Seiten ein gewisses Maß an Vertraulichkeit zu gewährleisten. Obwohl natürlich auch die EU-Kommission gewisse Verhandlungsspielräume besitzt, ist sie letztlich an das ihr vom Rat übertragene Mandat gebunden, welches Sie unter folgendem Link nachlesen können: http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO-13-564_de.htm . Was den Informationsfluss zu den Verhandlungsinhalten angeht, so sind die TTIP-Verhandlungen übrigens um ein Vielfaches transparenter als jegliche Verhandlungen in der Vergangenheit - die Kommission hat offenbar ihre Lehren aus dem Scheitern des SWIFT-Abkommens über den Bankdatenaustausch und des ACTA-Abkommens zur Bekämpfung von Produkt- und Markenpiraterie gezogen. Die Transparenz beschränkt sich dabei nicht auf das Europäische Parlament, sondern umfasst - wenn auch mit Unterschieden in Intensität und Ausmaß - alle Interessenträger der Wirtschaft und Zivilgesellschaft sowie die interessierte Öffentlichkeit.
Im Parlament haben beispielsweise die Schattenberichterstatter und Obleute der Fraktionen im Handelsausschuss Zugriff auf sämtliche Verhandlungsunterlagen, selbst die vertraulichsten. Darüber hinaus finden vor und nach jeder Verhandlungsrunde themenbezogene Gespräche zwischen den Verhandlungsführern der Kommission und den Abgeordneten statt. Verschiedene Informationsveranstaltungen, darunter Workshops, Anhörungen und Arbeitsfrühstücke, dienen der Herstellung von direktem Kontakt zwischen Europaabgeordneten, Interessenträgern, der Kommission und den amerikanischen Verhandlungspartnern. Neben den Informationsformaten mit wechselndem Teilnehmerkreis hat die Kommission auch eine feste Expertengruppe eingerichtet, welche sie fortlaufend hinsichtlich konkreter Erleichterungen für den Handel zwischen der EU und den USA beraten soll. Die Teilnehmer decken ein breites Spektrum ab, das neben den Bereichen Umwelt, Gesundheit, Verbraucher- und Arbeitnehmerinteressen auch verschiedene Wirtschaftszweige umfasst. Sämtliche Tagesordnungen und Sitzungsberichte der Gruppe werden online für jeden frei zugänglich veröffentlicht. Dasselbe gilt übrigens auch für Artikel der EU-Kommission zu den wichtigsten Themen im Zusammenhang mit dem TTIP und einen umfangreichen Katalog mit Fragen und Antworten der Kommission zum Freihandelsabkommen (abrufbar unter: http://ec.europa.eu/trade/policy/in-focus/ttip/questions-and-answers/index_de.htm ). Dass die Kommission nicht nur Informationen bereitstellt, sondern durchaus auch Standpunkte von außen in ihre Position einfließen, macht ihre einseitige Aussetzung der Verhandlungen zum äußerst umstrittenen Investitionsschutzkapitel Anfang 2014 deutlich: so bittet die Kommission zunächst im Rahmen einer öffentlichen Konsultation um Meinungsbekundungen, die bei der Feinabstimmung ihrer Verhandlungsposition Berücksichtigung finden sollen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Kritik an den TTIP-Verhandlungen in weiten Teilen unbegründet ist, da sie entweder nicht den Tatsachen entspricht oder noch nicht erzielten Verhandlungsergebnissen vorgreift. Natürlich kann trotz des regelmäßigen Austauschs der Verhandlungsführer mit allen institutionellen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Interessenträgern nicht ausgeschlossen werden, dass das endgültige Verhandlungsergebnis für eine oder beide Seite(n) nachteilige Bestimmungen enthält. Die ratifizierenden Organe - im Falle des TTIP sind dies das Europäische Parlament, die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, der Rat der EU und der US-Kongress - nehmen jedoch ihre demokratische Kontrollfunktion ernst und würden nach gründlicher Prüfung ihre Zustimmung zu dem Abkommen verweigern, sofern keine Korrekturen oder Nachbesserungen erfolgen.
Ich hoffe, mit meinen Ausführungen alle Ihre Fragen zu Ihrer Zufriedenheit beantwortet zu haben und verbleibe mit freundlichen Grüßen
i.A. Claudia Rubach
Parlamentarische Assistentin