Frage an Ralph Brinkhaus von Marina G. bezüglich Menschenrechte
Guten Tag, sehr geehrter Herr Brinkhaus,
via netzwerk-sozialrecht erfuhr ich Folgendes:
„Da es im Rahmen der Sozialcharta (bisher) keine unmittelbare gerichtliche Durchsetzungsmöglichkeit gibt, sind in einem „Zusatzprotokoll zur Europäischen Sozialcharta über Kollektivbeschwerden“ neue Verfahrensrechte festgelegt worden. Darin wurden Beschwerdemöglichkeiten eingeführt, die zu einer Überprüfung von Problemen kollektiven Charakters führen können.
Mehrere Vertragsstaaten haben dieses Protokoll inzwischen ratifiziert. Deutschland gehört bisher nicht dazu. Die Fraktion der Linken hatte bei der Beratung des Gesetzes zur Revision der Europäischen Sozialcharta beantragt, dass auch Deutschland nun dieses Protokoll unterzeichnen solle („Kollektivbeschwerden zur besseren Überwachung der Europäischen Sozialcharta ermöglichen – Zusatzprotokoll unterzeichnen und ratifizieren“ – BT-Drs. 19/22124).
Die Regierungskoalition hat diesen Antrag mit den Stimmen von AfD und FDP – und gegen die Stimmen der Grünen und Linken – abgelehnt (s. BT-Drs. 19/23182, S. 4).“
https://netzwerk-sozialrecht.net/an-welche-punkte-der-europaeischen-sozialcharta-sich-deutschland-nicht-gebunden-fuehlt/
1. Welche Vorteile für welche Kollektive erwarten Sie aus diesem Abstimmungsergebnis?
2. Welche Nachteile für welche Kollektive erwarten Sie aus diesem Abstimmungsergebnis?
3. Warum stimmten Sie und die Mitglieder der CDU+CSU-Bundestagsfraktion zusammen mit der AfD gegen die gerichtliche Möglichkeit von Kollektivbeschwerden zur Durchsetzung von Rechten und/oder Pflichten aus der Europäischen Sozialcharta?
Sehr geehrte Frau Gabel,
vielen Dank für Ihre Anfrage über Abgeordnetenwatch.
Für die Ratifikation müsste ein eigenständiges Ratifikationsverfahren eingeleitet werden, da das Zusatzprotokoll einen eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag beim Europarat darstellt und dementsprechend auch eigenständig ratifiziert werden muss. Eine Aufsattelung in einem Änderungsantrag ist nicht möglich.
Hauptanliegen des von Ihnen angesprochenen Zusatzprotokolls ist die wesentliche Erweiterung der Einflussnahme von Sozialpartnern und den beim Europarat nach Art. 1 Buchstabe b.) akkreditierten und in Bezug auf den Beschwerdegegenstand besonders fachkundigen (vgl. Art. 4 des Zusatzprotokolls) Nichtregierungsorganisationen auf die von den Vertragsstaaten vorgelegten nationalen Berichte und dem dazugehörigen Prüfverfahren beim Europäischen Ausschuss für soziale Rechte (EASR). In die Liste der für vier Jahre akkreditierten Nichtregierungsorganisationen finden sich zahlreiche europäische Organisationen und Vereinigungen.
Problematisches Kernstück des Zusatzprotokolls über Kollektivbeschwerden sind die niedrigschwelligen Zugangsvoraussetzungen für die Befassung des EASR. So können die in Art. 27 Abs. 2 der Europäischen Sozialcharta (ESC) genannten internationalen Sozialpartnerorganisationen, die beim Europarat akkreditierten Nichtregierungsorganisationen, aber auch die jeweiligen nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen sich ohne Ausschöpfung des nationalen Rechtsweges und ohne Nachweis eines konkreten Rechtsschutzbedürfnisses unmittelbar an den EASR mit der Beschwerde einer „nicht zufriedenstellenden Anwendung“ der Charta durch einen Vertragsstaat wenden. Nicht nur, dass damit dem Sachverständigenausschuss praktisch die Funktion einer generellen und umfassenden Rechtsbeschwerdestelle und Rechtsetzungs- und -auslegungsinstanz zuerkannt wird, sondern vor allem der höchst auslegungsbedürftige und vor allem subjektiv ausdeutbare Beschwerdegrund der „nicht zufriedenstellenden Anwendung“ der Charta werten den an sich positiven Ansatz für das Zusatzprotokoll ganz erheblich ab. Dies gilt umso mehr, als der EASR in den vergangenen Jahren gerade auch bei Deutschland immer wieder Verstöße gegen einzelne Bestimmungen der ESC und damit eine fehlende Übereinstimmung mit der Charta festgestellt hatte, die von der Bundesregierung als eine unzutreffende Auslegung der nationalen Rechtspraxis angesehen und bewertet wurden.
Das weitere Verfahren nach dem Kollektivbeschwerdeprotokoll gestaltet sich als ein rein schriftliches Verfahren, wobei dem EASR freigestellt ist, ob er die Stellungnahmen des betroffenen Vertragsstaates in seine Überlegungen einbezieht oder nicht. Eine „mündliche Verhandlung“ ist nicht vorgesehen. Der anschließend erstellte Bericht wird zwar auch dem betroffenen Vertragsstaat zugestellt, diesem ist aber eine Veröffentlichung nicht gestattet, Art. 8 Abs. 2 Zusatzprotokoll. Ein derart intransparentes Beschwerdeverfahren dürfte die Akzeptanz des Wertekanons der ESC wahrscheinlich nicht erhöhen und eher für eine Abwertung der vereinbarten Regelungen sorgen. Deutschland hat das Zusatzprotokoll weder gezeichnet noch ratifiziert und beabsichtigt auch keine Ratifikation.
Mit freundlichen Grüßen
Ralph Brinkhaus