Frage an Ralf Brauksiepe von Dr. Thomas K. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrter Herr Brauksiepe,
ich bitte Sie, zu folgender Praxis Stellung zu nehmen, die darauf hinausläuft, dass einige Arbeitsagenturen versuchen Ausgaben zu reduzieren, indem eine Verschlechterung der Gesundheit risikoschwangerer Frauen sowie eine Erhöhung der Rate von Fehlgeburten in Kauf genommen wird? Das Problem beginnt, wenn ein Arzt für eine ALG I beziehende Risikoschwangere ein mutterschutzrechtliches Beschäftigungsverbot ausspricht. Dies tut er guten Gewissens, da in ärztlichen Medien unter Verweis auf die Rechtsprechung kommuniziert wird, dass in solchen Fällen eine Weitergewährung von ALG I verpflichtend ist. So hat das Hess. Landessozialgerichts (L 9 AL 35/04) ausgeführt: "Zum Schutz der werdenden Mutter und des Kindes ist bei Fällen der vorliegenden Art – Beschäftigungsverbot bei arbeitslosen Schwangeren nach § 3 Abs. 1 MuSchG – die Beklagte im Wege der lückenfüllenden Auslegung zur Weitergewährung von Arbeitslosengeld verpflichtet, indem das Vorliegen von Verfügbarkeit fingiert wird." Während z.B. in Frankfurt a.M. in diesen Fällen ALG I weitergewährt wird, wird z.B. in Witten (wie uns widerfahren) versucht, die Frau dazu zu bringen, sich krankschreiben zu lassen. Verweigert sie sich dieser Umgehung des Mutterschutzes (was mit erheblichen finanziellen Einbußen einherginge), wird die Bewilligung von ALG aufgehoben, Widersprüche dagegen abgewehrt. Da die Frau auch nicht "krank" ist, verliert sie ihre Einkünfte und u.U. ihre Krankenversicherung(!). So werden die Frauen auf den Klageweg gezwungen. Da es sich hier IMMER um Frauen in einer extrem prekären Lage handelt, ist offensichtlich, dass dies geeignet ist, die Gesundheit der Frauen zu verschlechtern und Fehlgeburten wahrscheinlicher zu machen. In beiden Fällen hätte die BA das Problem gelöst, wenn auch extrem zynisch. Zudem ist wahrscheinlich, dass viele dieser Frauen nicht das Konfliktpotenzial aufbringen, den Rechtsweg zu beschreiten. Halten Sie diese Praxis für ethisch vertretbar?
MfG
T. Kleinsorge
Sehr geehrter Herr Dr. Kleinsorge,
haben Sie vielen Dank für ihre E-Mail, in der Sie mich auf das Problem von werdenden Müttern und der Berechnung von ALG I aufgrund eines Beschäftigungsverbots aufmerksam machen.
Den von Ihnen geschilderten konkreten Sachverhalt kann ich selbstverständlich als Außenstehender nicht bewerten. Im Grundsatz gilt jedoch, dass eine Schwangerschaft keine Krankheit ist und daher Beschäftigungsverbote nach dem Mutterschutzgesetz auch nicht gegenüber der Krankenversicherung, sondern gegenüber dem Arbeitgeber ausgesprochen werden müssen. Für Arbeitslose ist die Bundesagentur für Arbeit eine Art Ersatzarbeitgeber. Sie hat daher auch die Kosten von Beschäftigungsverboten zu tragen.
In Fällen in denen jede Art der Beschäftigung als potentielle Gefahr für das werdende Leben eingestuft worden ist, würde das Schutzinstrument des Beschäftigungsverbotes ins Leere laufen, wenn sich Schwangere weiterhin dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen müssten. Das Hessische Landessozialgericht verurteilte die Arbeitsagentur in einem ähnlichen Fall dazu, Arbeitslosengeld für den Zeitraum der Risikoschwangerschaft und des Beschäftigungsverbotes zu zahlen.
Inwiefern diese Entscheidung auf den von Ihnen geschilderten Fall übertragbar ist, kann ich nicht beurteilen. Ich hoffe aber, dass ich Ihnen mit diesen Hinweisen weiterhelfen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ralf Brauksiepe