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Frage von Andre K. •

Frage an Rainer Wieland von Andre K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Hallo Herr Wieland,

unter Rücksichtnahme der akutellen Untersuchungen gegen Frau Von der Leyen ist es absolut nicht vermittelbar, wie sie für ein so wichtiges, internationale Amt in Frage kommen kann. Was vermittelt das für einen Eindruck der EU? Wie können sie diesen Vorschlag rechtfertigen?

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Antwort von
CDU

Sehr geehrter Herr K.,

vielen Dank für Ihre Nachricht vom 2. Juli 2019, auf die ich höflich Bezug nehme. Lassen Sie mich zuerst betonen, dass ich mich freue, dass Sie sich mit Ihrem Anliegen - und in diesem Falle auch mit Ihrem Ärger - an mich wenden. Der direkte Kontakt zu Bürgerinnen und Bürgern ist mir sehr wichtig!

Vorab darf ich Ihnen sagen, dass auch ich alles andere als glücklich bin über das Scheitern unseres Spitzenkandidaten und die Beschädigung des Spitzenkandidatenmodells. Trotzdem glaube ich, dass mit Frau von der Leyen eine erfahrene Politikerin und überzeugte Europäerin Kommissionspräsidentin geworden ist, die neben ihren fachlichen Kompetenzen vor allem eines mitbringt: die Fähigkeit, die EU in den nächsten Jahren zusammenzuführen und bestehende Gräben, auch zwischen Ost und West, zu überwinden.

Lassen Sie mich im Folgenden etwas zu den Kräfteverhältnissen zwischen Rat und Parlament bei der Ernennung der Kommissionsspitze sagen: Vor dem Lissabon-Vertrag war die Macht des Rates bei der Besetzung der Kommissionsspitze absolut. Mit dem heutigen Wortlaut der Verträge kann der Rat am Ergebnis der Europawahl nicht mehr ohne weiteres vorbei. Laut Lissabon-Vertrag muss der Rat im Lichte des Ergebnisses der Europawahl mit qualifizierter Mehrheit eine Person vorstellen, der das Parlament mit absoluter Mehrheit zustimmen muss, damit sie in das Amt kommen kann. Es ist erkennbar, dass diese Demokratisierung der EU und die gleichzeitige Parlamentarisierung der Kommission nicht in allen Hauptstädten auf uneingeschränkte Gegenliebe stößt, sondern es im Gegenteil Kräfte gibt, die den Geist wieder in Flasche zwingen wollen.

2014 hat sich das Parlament in beeindruckender Geschlossenheit zum Wahlergebnis bekannt und sich gegen den Rat durchgesetzt. Dies ist 2019 nicht gelungen und ich ärgere mich darüber mindestens so sehr wie Sie. Die Uneinigkeit der wesentlichen Fraktionen hat natürlich dem Interesse des Rates in die Hände gespielt, im Kräftespiel der Institutionen verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Noch vor der Wahl hat das Parlament mit breiter Mehrheit seinen Willen bekräftigt, nur einen Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu unterstützen.

Leider haben sich zwei Parteifamilien zwischenzeitlich aus dieser gemeinsamen Position verabschiedet. Die Liberalen schon vor der Wahl, weil ihr neuer Hauptprotagonist Macron das Spitzenkandidatenmodell generell ablehnt (und Frau Vestager sich dann konsequent erst nach dem Wahlkampf zur Spitzenkandidatin erklärt hat), und die Sozialisten, weil sie die Wahlniederlage ihres Kandidaten Timmermans nicht anerkannt haben, sondern mit dem Kopf durch die Wand wollten. Wenn beispielsweise der SPD das Spitzenkandidatenmodell so wichtig gewesen ist, stellt sich die Frage warum sie dann nicht für den „legitimen“ Spitzenkandidaten Manfred Weber gekämpft hat, sondern für Timmermanns, wie dies Martin Schulz 2014 getan hat?

Politisch lässt sich meiner Meinung nach der Unterschied für das Parlament zwischen dem Erfolg 2014 und 2019 ziemlich präzise mit dem Unterschied zwischen Martin Schulz und Frans Timmermanns beschreiben. Martin Schulz war bereit, durchaus nachvollziehbare persönliche Pläne hinter das Interesse an einer Demokratisierung und Parlamentarisierung der EU zu stellen.

Dass der Rat schließlich Ursula von der Leyen als Kandidatin vorgeschlagen hat, hat auch damit zu tun dass die EVP-Fraktion ihren Führungsanspruch als stärkste politische Kraft im neuen Parlament reklamiert hat. Somit kommt sie zwar aus der stärksten Parteienfamilie, ist aber keine Spitzenkandidatin. Mehr – für den Wähler auch leichter Nachvollziehbares und für mich als Abgeordneten weniger Ärgerliches – schien für den Moment politisch nicht „drin“.

Das Gewissen eines Abgeordneten speist sich nicht nur daraus, was man jetzt vielleicht am liebsten täte, leider oft auch nicht daraus, was man als recht und billig empfindet, sondern auch daraus, dass man Dinge vom Ende her denkt. Im Falle einer europäischen Institutionenkrise - die gerade eine streitbare Bürgerkammer allerdings nicht um jeden Preis scheuen sollte - können sehr schnell ganz andere Dinge auf dem Spiel stehen, als das - auch mir sehr wichtige - Spitzenkandidatenmodell.

Das Ringen um Lösungen, der Weg zu tragfähigen Kompromissen, der Ausgleich von Interessen, eine politische Kultur, die Meinungsunterschiede nicht als Krieg mit Siegern und Verlierern begreift, sondern als bereichernden gesellschaftlichen Diskurs, die Suche nach Personen, die immer auch für Positionen stehen und (gerade auf Europäischer Ebene) das Wissen, dass Ergebnisse möglichst wenige demütigen dürfen und möglichst viele aufrecht vom Platz gehen lassen müssen – das ist Demokratie!

Die Tatsache, dass Frau von der Leyen diese Wahl nur sehr knapp gewonnen hat und die Diskussionen um das Spitzenkandidatenmodell haben gezeigt, wie wichtig es ist, den Prozess bis 2024 besser zu institutionalisieren. Frau von der Leyen hat dem Parlament versprochen, das Spitzenkandidatenprinzip durch Reformen bis zur nächsten Wahl auf ein stärkeres Fundament zu stellen. Ich bin überzeugt, dass wir hier in den nächsten Jahren vorankommen und erhebliche Fortschritte machen werden.

Ich danke Ihnen nochmals für Ihre Zuschrift und hoffe, dass ich Ihnen einige Aspekte erläutern und meinen Standpunkt in dieser Sachfrage darlegen konnte. Für weitere Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung und verbleibe

mit freundlichen Grüßen

Rainer Wieland