Frage an Peter Wichtel von Marc B. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Tag Herr Wichtel,
nachdem die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist zur Neufassung des Wahlrechts für Bundestagswahlen nun verstrichen ist, möchte ich Sie fragen, wie weit nach Ihrem Kenntnisstand eine neue Gesetzesvorlage bereits gekommen ist.
Was sind mögliche Alternativen zur bestehenden Fassung?
Wird das Gesetz noch rechtzeitig zur nächsten Wahl fertig?
Und wenn nicht, denken Sie, dass dies zu einer Regierungskrise führen kann?
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr Bärenz,
haben Sie vielen Dank für Ihre Anfrage vom 01. Juli dieses Jahres über das Portal abgeordnetenwatch.de. Gerne gehe ich im Folgenden auf Ihre Frage bezüglich des Bundestagswahlrechts ein.
Wie Sie mit Recht betonen, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seinem Urteil vom 3. Juli 2008 eine Neuregelung des Bundestagswahlrechts bis zum 30. Juni 2011 verlangt und der Politik damit eine vor allem mathematisch komplexe Aufgabe gestellt. Das seit Jahrzehnten angewendete Verfahren zur Umrechnung der abgegebenen Stimmen in Bundestagssitze kann unter bestimmten Fällen zu einem „negativen Stimmgewicht” führen. Bislang ist es möglich, dass mehr Zweitstimmen für eine Partei am Ende weniger Sitze im Bundestag für diese Partei bedeuten können – oder umgekehrt. Diese widersinnige Funktionsweise war zu beseitigen, was in einem föderal orientierten Zweistimmenwahlrecht eine überaus komplexe Aufgabe war.
Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen mitteilen, dass es der Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP, wenn auch spät, gelungen ist, diese Aufgabe zu lösen. Bereits in der vergangenen Woche haben wir im Parlament einen von der Bundesregierung diesbezüglich eingebrachten Gesetzentwurf in erster Lesung beraten.
Der Entwurf beinhaltet dabei die hauptsächliche Neuerung, dass das Verteilverfahren zukünftig umkehrt werden soll: Bislang wurden die Zweitstimmen zunächst auf die bundesweit verbundenen Listen der Parteien und dann auf die Landeslisten der jeweiligen Partei verteilt. Künftig soll zunächst die Verteilung auf die Länder und dann innerhalb der Länder auf die Parteien erfolgen.
Dazu soll in einem ersten Schritt festgestellt werden, wie viele Sitze auf das jeweilige Land entfallen, was sich aus der Anzahl der Wähler in den einzelnen Ländern ergibt. In einem zweiten Schritt sollen die auf ein Land entfallenen Sitze auf die dort zu berücksichtigenden Landeslisten verteilt werden, also jene Listen, die bundesweit die Fünf-Prozent-Hürde übersprungen haben. Durch die Aufhebung der bundesweiten Listenverbindungen wird der Effekt des „negativen Stimmgewichts” verfassungskonform beseitigt. Isoliert angewendet, würde dieses Verfahren jedoch ein neues Problem aufwerfen: Reststimmen, die in den jeweiligen Ländern für kein weiteres Mandat mehr reichen, würden verfallen, was insbesondere für kleine Parteien in kleinen Ländern schmerzlich wäre. Entscheidendes Problem aber wäre, dass sich Reststimmen-Vor oder Nachteile bei der Verteilung in den 16 Ländern zufällig aufsummieren könnten. Derartige Erfolgswertunterschiede werden künftig durch eine neue Reststimmenkorrektur ausgeglichen.
Die vielzitierten Überhangmandate sind übrigens nicht die Ursache für das „negative Stimmgewicht”, sondern im Zusammenspiel mit ihnen die miteinander verbundenen Landeslisten. Daher würden Ausgleichsmandate das „negative Stimmgewicht” nicht beseitigen und somit auch den BVerfG-Auftrag nicht erfüllen.
Mit dem Gesetzentwurf erfüllt die christlich-liberale Koalition den Auftrag des BVerfG, ohne dass neue Probleme geschaffen oder gar Ziele verfolgt werden, die mit diesem Auftrag nichts zu tun haben.
Eine mögliche Regierungskrise, wie von Ihnen in Ihrer Frage angesprochen, sehe ich daher nicht. Ich bin überaus optimistisch, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung die erforderliche Mehrheit im Bundestag erhalten wird und somit auch umgesetzt werden kann.
Ich hoffe, dass meine Antwort hilfreich für Sie war und grüße Sie herzlich aus Berlin.
Peter Wichtel