Frage an Paul Lehrieder von Joachim S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Lehrieder,
ich finde es sehr bedauerlich, dass sie der aktuellen Verschärfung des Asylpaket 2 zugestimmt haben. Wie rechtfertigen Sie diese massive Missachtung sämtlicher internationaler Konventionen (Genfer Flüchtlingskonvention, Konvention über die Rechte von Kindern, etc.)? Ich meine, dass gerade minderjährige Migranten einen besonderen Schutz und ihre Familie im Umfeld für eine gelungene Integration benötigen.
Mit freundlichen Grüßen,
Joachim Schwabe
Sehr geehrter Herr Schwabe,
herzlichen Dank für Ihre Zuschrift zum Asylpaket II. Sie haben damit Ihre Kritik hinsichtlich der Aussetzung des Familiennachzugs zum Ausdruck gebracht.
Dieses Jahr werden wir über eine Million Flüchtlinge zählen. Sollte jeder subsidiär Schutzbedürftige seine Kernfamilie nachholen dürfen, verdrei- oder vervierfacht sich die Zahl der in unserem Land lebenden Flüchtlinge. Hier geht es nicht mehr um das Wollen, sondern um das Können. Unsere Gesellschaft kann nicht jedes Jahr Millionen von Menschen aufnehmen und integrieren. Dafür reichen unsere Kapazitäten nicht aus. Ihre Bedenken hinsichtlich des Familiennachzugs bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kann ich grundsätzlich nachvollziehen. Dennoch bitte ich Sie darum, das Thema des Familiennachzugs für diese Gruppe differenziert zu betrachten.
Die Mehrzahl, nämlich rund 70 Prozent der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist 16 oder 17 Jahre alt. Sie haben sich eigenständig oder entsandt von ihren Familien auf den Weg gemacht und dabei den langen Zeitraum der Flucht nach Deutschland allein bewältigt. Zudem beginnt die Selbstständigkeit der jungen Menschen in den Herkunftsländern zumeist früher als es bei uns der Fall ist. Der älteste Sohn hat darüber hinaus oft eine besondere Verantwortung für die Familie, ähnlich einer Vaterfigur. Und auch wir in Deutschland halten eine temporäre Trennung der Jugendlichen von ihren Familien, zum Beispiel im Rahmen von Internatsbesuchen oder Auslandsaufenthalten, für zumutbar. All diese Aspekte müssen in die Betrachtung der Aussetzung des Familiennachzuges für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge einbezogen werden.
Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass in vielen Fällen der Jugendliche vorgeschickt und von der im Herkunftsland verbleibenden Familie auf die Möglichkeit des Familiennachzugs spekuliert wird. Auch wenn Eltern sich diese Entscheidung sicher nicht leicht machen, nehmen sie die mit der Flucht verbundenen Risiken in Kauf und gefährden ihr Kind. In Deutschland würde solch ein kindsgefährdendes Verhalten zur Folge haben, dass das Jugendamt den Jugendlichen in Obhut und somit aus der Familie nimmt. Aber das Verhalten der Eltern ist nicht nur verantwortungslos, sondern spielt auch dem kriminellen Geschäft der Schlepper in die Hände. Dieses Vorgehen darf durch die Möglichkeit des Familiennachzuges nicht unterstützt werden. Gleichzeitig schaffen wir für humanitäre Härtefälle die Möglichkeit, im Einzelfall positiv über den Familiennachzug zu entscheiden.
Im Übrigen hat die diesbezügliche Sachverständigenanhörung im Deutschen Bundestag nochmals bestätigt, dass dem Grundgesetz (Art. 6 I GG) kein Individualrecht auf Zusammenleben im Bundesgebiet entnommen werden kann. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte führt aus, dass die Europäische Menschenrechtskonvention nicht derart ausgelegt werden kann, dass Vertragsstaaten der unbedingten Verpflichtung unterliegen, einen Gebietsnachzug zu ermöglichen. Entsprechend bekräftigt der Europäische Gerichtshof, dass aus dem EU-Recht kein generelles Grundrecht auf Familienzusammenführung abzuleiten ist. Und auch die Kinderrechtskonvention beinhaltet kein subjektives Recht auf Familiennachzug.
Wir befinden uns in einer extremen Ausnahmesituation, die wir nicht dauerhaft stemmen können. Dennoch bekennen wir uns zu unseren christlichen Werten und fühlen uns verpflichtet, Menschen vor Krieg und Terror zu retten und in Not zu helfen. Die richtigen Antworten kann es nur bei einem abgestimmten und koordinierten Vorgehen auf allen Ebenen geben. Schließlich sind unsere Aufnahmekapazität und die Integrationsfähigkeit Deutschlands und Europas nicht unendlich. Wichtig ist, dass Europa insgesamt endlich zu mehr Kooperation und Hilfe bewegt werden kann. Deswegen arbeitet die Bundesregierung weiter mit Nachdruck daran, eine gemeinsame europäische Vorgehensweise in Sachen Flüchtlingshilfe zu vereinbaren.
Ich hoffe, Ihnen mit meinen Ausführungen weiterhelfen zu können.
Mit freundlichen Grüßen
Paul Lehrieder