Frage an Olaf Scholz von Grieta V. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Scholz,
bereits im letzten Jahr haben Sie Herrn Ferdinand Esser eine Abfolge der historischen Entwicklung bezügl.EU-Beitritt der Türkei dargelegt.Das ist allgemein bekannt.Ich erkenne nicht den Grund,warum die SPD weiter an einer Idee festhält,die von der großen Mehrheit unseres Volkes nicht unterstützt wird-aus guten Gründen,nur als Beispiel aktuell der Mord an Hrant Dink etc.Ist es vorauseilender Gehorsam gegenüber den USA,Großbritannien,oder Solidarität mit den persönlichen Erkenntnissen des Herrn Verheugen??Bitte empfinden Sie mein Statement nicht als Provokation (auch wenn es auf dem ersten Blick so klingt).Es ist besser,eine einmal auf anderer Basis getroffene Entscheidung zu revidieren,als der Slogan ..."Weiter so...(siehe Irak und siehe Bush).Damit Sie mich nicht mißverstehen:Ich habe mein lebenlang bis vor vier Jahren SPD gewählt,wie meine gesamte Familie,war mehrere Jahre mit einem Iraner verheiratet,habe auch jetzt türkische Freunde und dementsprechend guten Einblick in das Leben,Denken und Handeln von meinen türkischen Freunden.Sicher kann man nicht von einzelnen Menschen oder Familien auf die Allgemeinheit schließen,aber warum kann man als Volk nicht freundschaftliche Beziehungen zu einem anderen Volk haben,ohne beidseitig gezwungen zu werden,eigene Identitäten, Bräuche, Vorstellungen, Traditionen, Eigenschaften, religiöse Eigenheiten anpassen zu müssen??Ohne dem wird es immer Parallelgesellschaften geben,denn sowohl Religion als auch Tradition als auch gesellschaftliches Leben zwischen Türken und Deutschen ist eben nicht kompatibel.Wir kennen nicht den "türkischen Ehrbegriff" incl. Ehrenmorde,wir kennen nicht-in dem Maße- den Unterschied zwischen Wertigkeit eines Mannes und einer Frau etc.,umgekehrt ist für viele Türken unsere sog. Freizügigkeit im Leben, in der Partnerschaft, im Verhältnis der Generationen,unsere fehlende Religiösität etc. ein Gräuel. Eine Volksbefragung würde meine These bestät.Warum will die SPD das nicht?Angst??
Sehr geehrte Frau Vosough,
vielen Dank für Ihre Frage. Ich verstehe, dass Sie das Thema sehr bewegt. Auch mich hat der Mord an Hrant Dink tief getroffen.
Man sollte aber vorsichtig sein, diese Tat in Zusammenhang mit den Beitrittsgesprächen der Türkei zur EU zu stellen. Die türkische Regierung trifft keine Schuld an dem Mord und die vielen Demonstrationen gegen diesen Anschlag zeigen eher, dass große Teile der Gesellschaft diese Tat deutlich verurteilen.
Sicherlich wäre vor wenigen Jahren niemand auf die Idee gekommen, dass Litauen, Lettland, Estland oder Polen neue Mitglieder der EU sein werden.Aber auch in diesen Ländern hat sich viel geändert. Diese Länder sind trotz vieler Probleme Demokratien geworden. Eine wichtige Stütze für die demokratischen Reformen in diesen Ländern war stets die Perspektive des EU Beitritts. Ohne diese Perspektive hätten viele Staaten den schwierigen Weg der Transformation nicht gehen können.
Die mittlerweile etablierten EU-Mitglieder Griechenland, Spanien und Portugal waren noch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Militärdiktaturen ohne Beachtung der Menschenrechte und ohne Demokratie. Der Sturz der Militärregime und die Etablierung eines demokratischen Staates wurde durch die Beitrittsperspektive unterstützt. Schließlich konnten alle drei Staaten 1981 (Griechenland) und 1986 (Spanien und Portugal) der EU beitreten.
Über einen Beitritt der Türkei wird nicht heute entschieden. Die Türkei muss erst die Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllen.
Im Übrigen finde ich die Argumentation, dass bestimmte Religionen, Kulturen, Staaten bzw. deren Einwohner, nicht demokratiefähig seien, nicht richtig. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es sehr viele Menschen in Europa die behauptet haben, dass die Deutschen (aufgrund einer bestimmten deutschen Mentalität) nicht demokratiefähig seien. Wir haben eindrucksvoll bewiesen, dass das nicht stimmt. Ich finde leider auch, dass das Rollenverständnis von Mann und Frau nicht nur in der Türkei sondern auch in vielen Ländern der EU (auch in Deutschland) noch lange nicht so ist, wie Sie das beschreiben.
Es gibt viele weitere Beispiele dafür, dass Kultur und Religion nicht unmittelbar das Verhältnis zu Demokratie und Menschenrechten bestimmen. Indien ist ein sehr großer Vielvölkerstaat, mit zahlreichen Kulturen und Religionen und eine große Demokratie seit vielen Jahren.
Ich finde daher, dass man die Kräfte in der Türkei, die die Demokratie fördern und die täglich für die Beachtung der Menschenrechte kämpfen, nicht alleine lassen sollte. Die EU hat den Menschen in der Türkei mehrfach versprochen, dass ein Beitritt möglich ist, falls die Türkei alle rechtsstaatlichen und ökonomischen Kriterien für einen Beitritt erfüllt. Ich sehe keine neuen Erkenntnisse, die es nötig erscheinen lassen, an dieser Position etwas zu ändern. Wenn wir weltweit für die Verbreitung von Demokratie und die Achtung der Menschenrechte eintreten, müssen wir den Staaten Europas auch die Möglichkeit geben "dazu zugehören", die diese gemeinsamen Kriterien erfüllen.
Wie Sie meiner Antwort vom 17. Januar entnehmen können, trete ich für Volksentscheide auf Bundesebene ein. Allerdings sollten Volksentscheide generell zugelassen werden und nicht nur für eine spezielle Frage. Die SPD-Bundestagsfraktion hat immer wieder versucht Volksentscheide auch auf Bundesebene einzuführen. Hierzu ist aber eine 2/3 Mehrheit im Deutschen Bundestag erforderlich. Diese gibt es momentan nicht. Wir bemühen uns aber weiter um die Durchsetzung unserer Meinung.
Mit freundlichen Grüßen
Olaf Scholz