Wie könnte die Ukraine künftig die politischen Kriterien erfüllen, die für einen EU-Beitritt nötig wären? In wieweit müssen dort demokratische Grundsätze stärker beachtet werden?
Sehr geehrte Frau Demirel,
spielen neben den wirtschaftlichen Kriterien auch politische Kriterien eine wichtige Rolle für einen EU-Beitritt? Wie schätzen Sie in diesen Fragen die Lage in der Ukraine ein? Letztes Jahr wurden in der Ukraine elf Oppositionsparteien verboten. Schon vor zwei Jahren wurden dort die die ersten Fernsehsender verboten.
https://web.de/magazine/politik/russland-krieg-ukraine/ukraine-verbietet-prorussische-parteien-nacht-ueberblick-36705834
https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-weitere-sender-der-opposition-geschlossen-1.5497836
https://www.n-tv.de/politik/Ukraine-verbietet-prorussische-Sender-article22335395.html
Mit freundlichen Grüßen
Sehr geehrter Herr G.,
Was die Beitrittskriterien für zukünftige EU Mitgliedsstaaten betrifft, so gibt es genaue Prozedere, die Sie hier https://european-union.europa.eu/principles-countries-history/joining-eu_de einsehen können. Die Staaten müssen die sogenannten "Kopenhagener Kriterien" erfüllen, die derzeit in 35, so genannte Kapitel unterteilt sind, dazu gehören Kriterien wie Wahrung der Menschenrechte, demokratische und rechtsstaatliche Ordnung und Schutz von Minderheiten – also Punkte die den Bereich betreffen, den Sie angesprochen haben. Nun befindet sich die Ukraine in einer Kriegssituation in der man sagen könnte, bestimmte Bereiche werden sich danach wieder normalisieren/ demokratisieren. Aber der ukrainische Präsident Selenskij hat im August 2022 beispielsweise auch das Gesetz zur "Reform der Arbeitsbeziehungen« unterzeichnet. Dieses Gesetz setzt vereinfacht gesagt, kollektive Arbeitsregularien in allen Unternehmen mit weniger als 250 Beschäftigten weitestgehend außer Kraft. Das Gesetz individualisiert das Arbeitsrecht extrem und reduziert zum Beispiel die Kündigungsfrist auf die Postlaufzeit des entsprechenden Schreibens an den Beschäftigten, während die bisherige Verpflichtung, die Gewerkschaftsgrundorganisation im Betrieb anzuhören und ihre Einwilligung einzuholen, entfällt. Im Bereich Arbeitsschutz beispielsweise - reicht es wenn das Unternehmen dem Beschäftigten schriftlich über vorhandene schädliche und gefährliche Arbeitsbedingungen informiert. Damit sind dann Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten ein individuelles Risiko des Beschäftigten.
Dieses Gesetz wird höchstwahrscheinlich nicht gegen einen eventuellen EU- Beitritt sprechen, weil es kein Europäisches Arbeitsrecht gibt. Die drei großen Kriterien ("politische, wirtschaftliche und Acquis-Kriterium") beinhalten vor allem die Anpassung an das EU- Wirtschaftssystem - was ich ausdrücklich kritisiere. Denn es stehen Wettbewerbsfähigkeit und die Freiheit des Warenverkehrs an ganz oberster Stelle. Nicht Arbeitnehmer:innenrechte oder soziale Daseinsvorsorge. Genau deshalb sehe ich die EU- Erweiterung generell eher kritisch, nicht aus Sorge, dass die Mitgliedsstaaten die Kriterien nicht erfüllen können – sondern gerade was den Abbau von Schutzmechanismen betrifft- dass sie diese Kriterien erfüllen müssen!
Aber auch Punkte, wie die Übernahme der außenpolitischen Ausrichtung der EU macht mir derzeit sorgen, denn das hieße, dass man sich den geopolitischen Großmachtsambitionen der EU unterordnen muss, was ich auf schärfste ablehne. Ich schätze, dass es noch Jahre dauern wird, bis die Ukraine alle Kriterien erfüllt und bezweifle, dass auch von Seiten der EU- Staaten ein schneller Beitritt gewollt ist, den die Ukraine wäre ein großes Mitgliedsland und bekäme demnach auch einen Großteil an Mitbestimmung im EU- Rat– was ich denke, zum jetzigen Zeitpunkt, nicht gewollt ist. Im Moment sieht es für mich so aus, dass die Ukraine in den EU -Binnenmarkt integrieren werden soll ohne sie zum Mitglied zu machen.