Frage an Niema Movassat von Thomas G. bezüglich Recht
Sehr geehrte Herr Movassat,
meine Fragen beziehen sich auf die juristische Ausbildung in Deutschland.
1) Unterstützen sie das derzeitige System mit zwei Staatsexamen?
2) Gäbe es ein anderes System, dass sie besser fänden (bspw. Bachelor und Master wie in der Schweiz, der Magister wie in Österreich oder ein Aufbaustudium wie der JD in den USA etc.)?
3) Halten sie die Noten der beiden Staatsexamina für aussagekräftig?
4) Wie haben sie selbst ihre eigene juristische Ausbildung wahrgenommen?
5) Denken sie, dass die im europäischen Vergleich hohen Durchfallquoten vertretbar sind insbesondere in Anbetracht der zunehmenden Durchlässigkeit des Anwaltsmarktes (Eurag-Gesetz)?
6) Wie sehen sie die hohe psychische Belastung vieler Studierender und Referendare?
7) Sollte Deutschland die Anerkennung von ausländischen juristischen Abschlüssen, die nicht aus einem EU/EFTA Staat kommen, erleichtern?
Ich würde mich sehr über eine Antwort freuen.
Herzliche Grüße,
T. G.
Sehr geehrter Herr G.,
vorweg möchte ich betonen, dass ich eine Debatte über die Reform der Staatsexamina für wichtig halte. Zu Ihren einzelnen Fragen:
Zu 1 u. 2)
Das Konzept der Staatsexamina hat sich insgesamt bewährt und ist auch international anerkannt. Ich sehe die Form der Jura-Abschlusses nicht als Problem. Die Bologna-Reform mit den neueingeführten Abschlüssen des Bachelors oder Masters sind Ergebnis eines Ökonomisierungsprozesses in der Bildung. Bachelor- und Masterabschlüsse sind nicht unbedingt erstrebenswert. Ich bin also dafür, dass System des ersten und zweiten Staatsexamens beizubehalten.
Nachvollziehbar halte ich allerdings die Forderung, dass unter der Schwelle des Bestehens des Staatsexamens die Verleihung eines anderen akademischen Abschlusses in Betracht zu ziehen ist - die wäre zurzeit wohl der Bachelor. Dies würde der Situation Vieler, die im Falle des Nichtbestehens ins Nichts fallen, gerecht werden.
Zum System gehört auch die Frage der Inhalte. M. E. hat die Stoffdichte immer weiter zugenommen. Ich denke, es ist notwendig, vor allem im ersten Staatsexamen, bei dem keine Kommentare zulässig sind, vor allem die Kernbereiche des Rechtes abzufragen und die Stoffmenge durch immer neue Aspekte in den Nebengebieten nicht ins Unendliche auszuweiten.
Zu 3.)
Noten sind allgemein niemals vollständig aussagekräftig. Dies gilt auch für die Staatsexamina-Note. Ich halte die Korrekturen der Klausuren für ein großes Problem. Die Klausuren werden durch eine Erst- und eine Zweitkorrektur bewertet. Es wäre wichtig, dass die Zweitkorrektor die Bewertung des Erstkorrektors nicht kennt. Derzeit ist er aber durch diesen Eindruck der Erstkorrektur, die bekannt ist, stark beeinflusst. Zu große Notendifferenzen zwischen den Korrektoren bedeutet außerdem Mehrarbeit für sie. Sie müssen sich ins Benehmen setzen und einigen bzw. muss ein weiterer Korrektor hinzugezogen werden.
Zu 4.)
Ich war selbst insgesamt zufrieden mit meiner juristischen Ausbildung, hatte das Glück, DozentInnen und AG-Leiter*innen zu haben, die auf Fragen intensiv eingegangen sind und sich um die Studierenden gekümmert haben. Die Stoffmenge hielt ich aber auch damals für zu groß und kaum überschaubar.
5 u. 6.)
Die hohen Durchfallquoten und die psychischen Leiden sind nicht hinnehmbar. Es sollte keineswegs darum gehen, die juristischen Prüfungen weniger anspruchsvoll zu gestalten. Die Breite des Prüfungsstoffes ist allerdings ein Selektionskriterium, bei dem nicht unbedingt die fähigeren von den weniger fähigeren Jurist*innen getrennt werden. Im Gegenteil, die Prüfungen könnten sich sogar als anspruchsvoller erweisen, wenn es in die Tiefe und nicht in die Breite gehen würde. Die Absurdität der Breite des Prüfungsstoffes zeigt sich ja auch in der Tatsache, dass 9 von 10 Jurastudierenden ein sog. Repetitorium für viel Geld besuchen. In keinem anderen Studiengang hat sich eine ähnliche Praxis entwickelt, bei dem Studierende sich am Ende ihres Studiums nicht bereit fühlen für das Examen und ein derartiges kommerzielles Repetitorium für notwendig erachten. Das selektiert also besonders auch finanziell.
7.)
Das wäre sicherlich in der Anerkennung des 1. Examens begrüßenswert. Allerdings besteht bei Jura natürlich die Besonderheit, dass es in der Praxis auf die Rechtsordnung der jeweiligen Länder in denen der Abschluss verliehen wird ankommt.
Mit freundlichen Grüßen
Niema Movassat