Frage an Natascha Kohnen von Udo F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Guten Abend Frau Kohnen!
Wie steht die Bayern-SPD zu der Aussage der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD Özguz: "eine spezifisch deutsche Kultur […], jenseits der Sprache, sei schlicht nicht identifizierbar“?
Die Bayern können auf eine über 1000 Jahre alte Kultur- und Geistesgeschichte zurückblicken. Laut Art. 3 der Verfassung des Freistaates Bayern ist Bayern ein Kulturstaat!
Warum kommt kein parteinterner Widerspruch?
Vielen Dank im Falle einer ehrlichen (!) Antwort!
Sehr geehrter Herr F.,
Sie beziehen sich auf einen Satz, der in der Zeitung „Tagesspiegel“ veröffentlicht wurde. Er entstammt einem Gastbeitrag für die Rubrik „Causa“, in der Debattenbeiträge veröffentlicht werden, mit häufig zugespitzten Thesen.
Auf diesen Beitrag reagierte der AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland in einer Art, die für mich indiskutabel ist und einen Tiefpunkt in der Kultur der politischen Debatten in der Bundesrepublik darstellt.
Zur Frage nach einer möglichen Definition von Kultur:
selbstverständlich gibt es historisch gewachsene Traditionen, ihre Prägung ist insbesondere regional. Dem wird u.a. mit der Grundsatz der Bundesrepublik als Föderalstaat Rechnung getragen.
Auf der anderen Seite haben wir zum Glück viele gewachsene Traditionen überwunden, so zum Beispiel die Ständegesellschaft, die zum Teil bis zur Farbe der erlaubten Kleidung bei den Bürgern Vorschriften machte. Über viele Jahrhunderte galt die Idee von gleichberechtigten Bürgern als „unnatürlich“. Auch mit dem Frauenwahlrecht sind wir aus sogenannten „gewachsenen Traditionen“ ausgebrochen. Ein weiterer Bruch mit „althergebrachten Rechten“ war die Einführung der gleichen Wahl: dass also die Gewichtung der Stimme bei der Wahl für alle Bürger gleich ist - und nicht abhängig von den Steuern, die man zahlt.
Unser gesellschaftliches Miteinander hat also häufig große Veränderungen erfahren und diese waren verglichen mit vielen Traditionen meist Verbesserungen.
Insgesamt herrscht aber in der Debatte um eine mögliche „Leitkultur“ ein großes Missverständnis: das Zeitalter der Aufklärung hob das gesellschaftliche Miteinander auf ein neues Niveau und dies unabhängig von Traditionen. Grundlage dafür war die Idee vom Gesellschaftsvertrag. Vordenker hierfür war zum Beispiel der große englische Philosoph John Locke, der als Erster eine Theorie der Gewaltenteilung entwickelte.
Die radikalen Brüche der Aufklärung, die sich von Traditionen wie dem „Gottesgnadentum“ distanzierten, haben den Weg gebahnt zum Menschenbild in unserem Grundgesetz.
Eine präzise Diskussion, die unterscheidet zwischen Traditionen wie z.B. Maibaum oder kulinarischen Besonderheiten auf der einen Seite und den geschichtlichen Entwicklungen, die zu unserem politischen und gesellschaftlichen System geführt haben, wäre sehr wünschenswert. Insbesondere da der jungen Generation die Auswirkungen des Zeitalters der Aufklärung nicht ausreichend klar sind.
Deutschland mittels einer Aufzählung von Stichworten wie „Schiller“/ „Goethe“/ „Pünktlichkeit“ etc. - die auch leicht zu Klischees werden - zu definieren, ist mir persönlich zu wenig.
Diese präzise Diskussion fände ich auch angebracht, damit wir verstehen, wie die Generationen vor uns unsere Rechte für uns hart erstritten haben - und wie unendlich wertvoll diese für uns sind. Dies anstatt populistische Debatten darüber zu führen, was Kultur sei - oder nicht sei.
Mit freundlichen Grüßen
Natascha Kohnen