Frage an Michael Müller von Elisabeth S. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Müller,
in einem Interview der RBB-Abendschau am 04. April 2005 zum Thema Werteunterricht haben Sie sich erstmalig für das Fach LER als Pflichtfach ausgesprochen. Zuvor plädierten Sie für ein Wahlpflichtfach LER. Diesen Meinungsumschwung begründeten Sie mit einem Abgleich mit der Ansicht, die K. Wowereit vertritt zum einen, zum anderen argumentierten Sie, dass die Diskussion über Werte für alle Schüler verbindlich sein soll. Verpflichtet zur Teilnahme am Fach LER soll über Gleichberechtigung, Toleranz, Gewaltfreiheit und über all die Werte, die unser Zusammenleben ermöglichten, gesprochen werden. Das ist eine hübsche Ansicht. Leider fehlt ihr ein Fundament. Sicherlich ist Ihnen aufgefallen, dass in unserem Land zur Zeit über Werte und Begriffe heftig gestritten wird. Gewiß ist Ihnen auch das Wort Hegels geläufig, der in seiner Dialektik über die "Entehrung des Begriffs" handelt.
Wie stellen Sie sich also eine Wertediskussion im konkreten Klassenraum vor, geführt von einer Lehrkraft und 34 Schülern unterschiedlicher Herkunft, die geprägt sind von den (Nicht-) Werten des jeweiligen Elternhauses, die eine Diskussion im Land erleben, die deutlich macht, dass es unseren Werten an inhaltlicher Stärke und Differenziertheit fehlt, dass sehr viele Begriffe tatsächlich "entehrt" sind, dadurch dass sie in einem falschen Kontext gelebt und verwendet werden (z.B. Ehre in Selbstjustiz, Toleranz in Beliebigkeit, Gerechtigkeit in Gleichmacherei)? Wie soll ein Lehrer diese uneinheitliche Vielfalt bündeln und die Schüler zur Wahlfreiheit eines Lebensweges aufrufen, der auf einer solchen Undifferenziertheit gebettet ist?
Mfg
E. Santini
Sehr geehrte Frau Santini,
vielen Dank für Ihre Frage zum neuen Ethikunterricht. Lassen Sie mich zunächst auf den bisherigen Zustand eingehen. Zurzeit besuchen von den Berliner Oberschülerinnen und Oberschülern gerade einmal 26 Prozent einen Religions- oder Weltanschauungsunterricht. Rund 16 Prozent nehmen am evangelischen und 5 Prozent am katholischen Religionsunterricht teil. In einigen Stadtbezirken besucht keine einzige Schülerin und kein einziger Schüler diesen Unterricht! Diesen Zustand halten wir für unhaltbar und haben deshalb zusätzlich den verbindlichen Ethikunterricht ab der 7.Klasse eingeführt. Der Religions- und Weltanschauungsuntericht bleibt erhalten und wird weiterhin staatlich finanziert. Sicher, man hätte als Reaktion auf die geringe Teilnahme auch ein Wahlpflichtfach einführen können. Aber das ist in der Metropole Berlin nur der zweitbeste Weg. Das ist meine Überzeugung. Gerade bei diesem so wichtigen Unterricht sollten wir die Schülerinnen und Schüler nicht nach Religionszugehörigkeit separieren und die Klasse spalten. Nein, nicht Moslems für sich, Christen für sich, Juden für sich - nicht jeder für sich allein. Gemeinsam muss die Auseinandersetzung erfolgen über die Grundüberzeugungen und Werte, die unsere Gesellschaft überhaupt zusammenhalten.
Unser aller Ziel sollte sein, dass alle jungen Menschen mit einem ausgeprägten demokratischen Grundverständnis und dem Respekt vor anderen Weltanschauungen die Schule verlassen. Wir müssen offenen Auges die Realitäten in unserer Stadt sehen. Wir haben in Berlin schlicht und ergreifend die von Ihnen angesprochene „uneinheitliche Vielfalt“. Damit müssen wir umgehen und wir müssen diese „uneinheitliche Vielfalt“ zusammenführen. Zusammenführen auf unsere demokratischen Grundüberzeugungen und Grundwerte. In Berlin gibt es Schulen, in denen die große Mehrheit islamischen Glaubens ist. Die Schule muss hier die Aufgabe haben, diese Schülerinnen und Schüler auch über den christlichen Glauben zu informieren. Ebenso wichtig ist es, dass Katholiken und Protestanten mehr über die anderen in der Stadt vertretenen Religionen erfahren. Dieses Verständnis und die daraus erwachsende Toleranz ist grundlegend für das friedliche Zusammenleben in unserer Stadt. Aber Sie haben vollkommen recht, wenn Sie darauf hinweisen, dass die Wertevermittlung nicht ausschließlich über ein Schulfach erfolgen kann. Wertevermittlung muss selbstverständlich auch im Elternhaus stattfinden, muss in der Schule gelebt und gelernt werden und schließlich ist sie eine Aufgabe für die gesamte Gesellschaft – auch für Medien, Kirchen, Politik und Wirtschaft.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Müller