Frage an Michael Gwosdz von Gerhard R. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Gwosdz,
zur Begründung meiner Fragen konstruiere ich einen nach meiner Meinung jederzeit und überall möglichen Fall:
Ein Jugendoffizier geht auf Einladung der Schule in den Unterricht und macht dort nur Werbung für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Gegensätzliche Positionen werden vom Lehrer nicht erwähnt und auch nicht diskutiert. Es wurde auch nicht jemand aus einer Friedensgruppe oder aus einer Organisation für Kriegsdienstverweigerer eingeladen.
Sind Jugendoffiziere besonders gut geschult und betr. Informationen sowie insbesondere Rhetorik den meisten Schülern deutlich überlegen?
Ist das Fehlen der Ausgewogenheit ein Verstoß gegen das Schulgesetz?
Muß die Schule vor Einladung eines Jugendoffiziers prüfen, ob die Ausgewogenheit erreicht wird?
Können Sie sich vorstellen, daß immer mehr Eltern wegen des Afghanistankrieges in ihrer Erziehung darauf hinwirken, daß ihre Söhne nicht als Freiwillige zur Bundeswehr gehen und nicht nach Afghanistan müssen?
Wie muß sich die Schule verhalten, wenn diese Eltern einen Antrag auf Befreiung ihres Sohnes von der Unterrichtsstunde mit dem Jugendoffizier stellen?
Müssen bei dieser höchstpersönlichen Entscheidung, die Folgen für das Leben oder die Gesundheit eines jungen Menschen haben kann, die Eltern- und Kinderrechte Vorrang vor der Teilnahmepflicht am Unterricht haben?
Mit freundlichen Grüßen
Gerhard Reth
Sehr geehrter Herr Reth,
zunächst einmal vielen Dank für Ihre Frage und die weiteren E-mails. Ich beantworte hier über das Portal aber nur die Frage, die auch hier veröffentlicht wurde.
Aus meiner persönlichen Sicht spricht nichts dagegen, dass die Jugendoffiziere der Bundeswehr von Schulen eingeladen werden, um dort mit Schülerinnen und Schülern zu diskutieren. Die Bundeswehr ist ein Teil unserer demokratischen Gesellschaft. Wir entscheiden als Bürgerinnen und Bürgern durch unsere Wahlentscheidung mit über die Frage des Einsatzes der Bundeswehr und damit auch über das Schicksal der Soldatinnen und Soldaten. Insofern halte ich es für selbstverständlich, dass wir uns mit der Institution Bundeswehr als solcher, aber auch den einzelnen Soldatinnen und Soldaten im Gespräch auseinandersetzen und mit ihnen gemeinsam die Rolle der Bundeswehr, ihre Aufgaben und das Selbstverständnis der Institution wie der Soldatinnen und Soldaten reflektieren. Diese Auseinandersetzung erwarte ich von einem mündigen Bürger oder einer mündigen Bürgerin, bevor er oder sie sich ein Urteil über die Bundeswehr, über Soldatinnen und Soldaten oder den Kriegsdienst als solchen bildet.
Natürlich setzt diese Urteilsbildung auch voraus, dass Schülerinnen und Schüler ein ausgewogenes Bild von der Rolle der Bundeswehr, der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und der verheerenden Auswirkung, die Kriege in der Geschichte hatten, erhalten. Hierzu bieten die Lehrpläne der Schulen in verschiedenen Fächern ausreichend Raum. Die Ausgewogenheit im Bereich der politischen Bildung herzustellen, obliegt dabei der Verantwortung der Schulen, d.h. konkret der Lehrerinnen und Lehrer. Diese sind im Bereich der politischen Bildung dem Beutelsbacher Konsens von 1976 verpflichtet, der für die Auseinandersetzung mit politischen Themen festhält:
Erstens gilt das Überwältigungsverbot (auch: Indoktrinationsverbot), d.h. Lehrende dürfen Schülern nicht ihre Meinung aufzwingen, sondern sollen Schüler in die Lage versetzen, sich mit Hilfe des Unterrichts eine eigene Meinung bilden zu können. Dies ist der Zielsetzung der politischen Bildung geschuldet, in den Schülern mündige Bürger heranzubilden.
Zweitens gilt das Gebot der Kontroversität (auch: Ausgewogenheit). Dieses zielt darauf ab, den Schülern freie Meinungsbildung zu ermöglichen. Der Lehrende muss ein Thema kontrovers darstellen und diskutieren, wenn es in der Öffentlichkeit kontrovers erscheint. Seine eigene Meinung und seine politischen wie theoretischen Standpunkte sind dabei für den Unterricht unerheblich und dürfen nicht zur Überwältigung der Schüler eingesetzt werden.
Drittens gilt das Prinzip der Schülerorientierung. Das heißt, die Schülerinnen und Schüler sollen in die Lage versetzt werden, die politische Situation der Gesellschaft und ihre eigene Position zu analysieren und sich aktiv am politischen Prozess zu beteiligen, indem sie nach Mitteln und Wegen suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne ihrer Interessen zu beeinflussen.
In der eigenen Verantwortung der Schulen steht es dabei, diese Punkte zu verwirklichen. Dies setzt nicht zwangsläufig voraus, dass dabei einem Jugendoffizier im Moment seines Auftretens eine Vertreterin oder ein Vertreter einer Friedensgruppe oder aus einer Organisation für Kriegsdienstverweigerer zur Seite gestellt wird. Die Kontroversität oder Ausgewogenheit, um den Schülerinnen und Schülern eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen, kann auch durch andere Methoden erzielt werden. So können die Schülerinnen und Schüler für den Besuch des Jugendoffiziers besonders kritische Fragen und Standpunkte vorbereiten und sie können selbst die kontroverse Position übernehmen. Auch kann die Diskussion mit einer Vertreterin oder einem Vertreter mit anderen Ansichten zu einem anderen Zeitpunkt stattfinden.
In der Tat sind Jugendoffiziere für ihren Auftritt an Schulen besonders geschult. Ich schließe auch nicht aus, dass einzelne Jugendoffiziere Jugendlichen gegenüber rhetorisch überlegen sind. Aber ich kenne einerseits Jugendoffiziere und erlebe andererseits Schülerinnen und Schüler in politischen Debatten. Daher kann ich nicht bestätigen, dass es eine grundsätzliche rhetorische Überlegenheit von Jugendoffizieren gegenüber Schülerinnen und Schülern gibt. Letztlich spielt das aber auch keine Rolle, wenn die Lehrerinnen und Lehrer insgesamt den Unterricht so gestalten, dass jederzeit Raum für Meinungen und Positionen jenseits der von den Jugendoffizieren vertretenen Positionen ist. Insofern stimme ich Ihnen zu, dass grundsätzlich die Schule prüfen muss, wie sie insgesamt zu einer ausgewogenen und kontroversen Darstellung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik kommt. Dies gilt sowohl für den Fall, dass Jugendoffiziere eingeladen werden wie auch für den Fall, dass Jugendoffiziere nicht eingeladen werden. Es ist nämlich selbstverständliche Aufgabe von Politikunterricht, dies zu tun. Den Hamburger Lehrerinnen und Lehrern traue ich es voll und ganz zu, angesichts ihrer Ausbildung wie auch ständigen Fortbildung, dieser Aufgabe bestens nachkommen zu können. Jenseits des von Ihnen konstruierten Falles liegen mir auch keine realen Hinweise vor, die mir einen Anlass dazu geben, meinen Eindruck hinsichtlich dieser Fähigkeiten der Lehrerinnen und Lehrer im Umgang mit Jugendoffizieren zu bezweifeln. (Ein Beispiel für diese permanente Fortbildung ist die Fachtagung "Was hat Afghanistan mit mir zu tun?" zum Thema "Neue Herausforderungen der Friedenspädagogik" für Lehrkräfte der Sek I + II aller Schulformen und pädagogische Fachkräfte, die vom 4. bis 5.12.2008 am Landesinstitut für Lehrerbildung stattfand. Mehr dazu unter http://www.li-hamburg.de/tagungen/tagungstermine/tagung.200812/infotext.html ).
Abschließend zu Ihren drei letzten konkreten Fragen:
Erstens: Ja, natürlich kann ich mir vorstellen, dass Eltern wegen des Afghanistankriegens in ihrer Erziehung darauf hinwirken, dass ihre Söhne - aber auch ihre Töchter - nicht als Freiwillige zur Bundeswehr gehen und nicht nach Afghanistan müssen. Ich halte diese Einstellung für eine sehr vernünftige, nicht nur vor dem Hintergrund des Afghanistankrieges. Allerdings bin ich auch der Auffassung, dass die Söhne und Töchter zu dieser Einsicht aus eigener und freien Entscheidung kommen müssen.
Dies setzt dann zweitens voraus, dass Eltern weder ihren Sohn noch ihre Tochter vor einer Unterrichtsstunde mit einem Jugendoffizier bewahren, sondern im Gegenteil diese als wichtigen Teil für eine eigene und freie Urteilungsbildung verstehen. Denn auch in der politischen Erziehung der eigenen Kinder halte ich das Überwältigungsverbot für wesentlich. Daher hat für mich drittens die Teilnahmepflicht am Unterricht Vorrang. Denn aus einem Gespräch mit einem Jugendoffizier kann ich beim besten Willen keine negative Auswirkung auf Leben oder Gesundheit eines jungen Menschen ableiten.
Um meine Position zu dieser Frage zusammenzufassen: die direkte und bewusste Auseinandersetzung mit dem Militär verstehe ich als Voraussetzung dafür, eine eigene und bewusste Position zum Militär zu entwickeln, die fundiert ist und auch eine längere Zeit trägt. Dabei begrüße ich jeden jungen Mensch, der wie ich in dieser Auseinandersetzung zur Entscheidung kommt, aus persönlicher Überzeugung den Kriegsdienst abzulehnen. Dies setzt aber voraus, dass der junge Mensch Gelegenheit bekommt, diese persönliche Überzeugung auch zu entwickeln.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Gwosdz