Frage an Michael Fuchs von Reinhold M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Fuchs,
wenn ich unser Wahlrecht richtig verstanden habe, wird etwa eine Hälfte der Mandatsträger mittels der Erststimme in den Bundestag gewählt. Die „andere“ Hälfte der Mandate wird über die Listen der Parteien, gemäß dem Anteil der Zweitstimmen, den die Parteien erhalten haben, aufgefüllt.
Es ergibt sich, dass die „andere“ Hälfte nicht direkt gewählt ist, sonder über die Listen Ihrer Parteien das Mandat erhält. Von dieser Hälfte wird niemand zweifelsfrei behaupten können, sie sei tatsächlich unabhängig.
Genau an dieser Stelle muss an der demokratischen Legitimation gezweifelt werden. Unser Wahlrecht ließe aber die Beteiligung des Wählers an Wahlen und Abstimmungen im Bundestag, oder vergleichbaren Organen zu, ohne unsere Demokratie auch nur im Geringsten zu gefährden. Das hätte nur, und das beabsichtigt, eine Machtminderung der Parteien zur Folge. Ungeachtet der wichtigen Aufgabe die sie erfüllen.
In Ihrer Antwort vom 19. Mai weisen Sie auf den hohen Schutz der Artikel 1 & 20 hin. In Artikel 20 werden Wahlen und Abstimmungen als ausdrückliches Mittel der Ausübung der Volksmacht genannt. In Artikel 76 werden die Bundesregierung, der Bundesrat und der Bundestag aus seiner Mitte, als Abgabeberechtigte einer Gesetzesvorlage genannt. Wahlen oder Abstimmungen durch das Volk hierzu finden nicht statt. Sollten aber nach Artikel 20 eigentlich Standard sein!
Ich möchte Ihnen wiedersprechen wenn Sie folgern, dass die hohe Wahlbeteiligung als Ausdruck der Zustimmung zu der Handhabung unseres Grundgesetzes gelten muss. Die hohe Wahlbeteiligung ist sicher Ausdruck starken Willens zur Beteiligung. Die zu stark vorhandene Wahlverweigerung weist jedoch deutlich auf den Wunsch nach direkterer Demokratie hin.
Wie wollen Sie diesen Wunsch nach direkterer Demokratie umsetzen oder erreichen, das Abstimmungen im Bundestag, oder vergleichbaren Organen, wieder ein Bild „des Wählers“ repräsentieren?
Mit Freundlichen Grüßen
Reinhold Müller
Sehr geehrter Herr Müller,
Demokratie, Bürgerrechte und Staatsformen - das sind sehr komplexe Themen, die in einem entsprechenden Studiengang von Professoren gelehrt und erforscht werden. Es sind Fragestellungen, die die Menschheit seit Jahrhunderten beschäftigten, und zu denen es unzählige Theorien und Abhandlungen gibt. Winston Churchill soll einmal gesagt haben: Die Demokratie ist ein schlechtes System, aber das beste, das mir bekannt ist. Deutschland feiert in diesem Jahr sein 60-jähriges Bestehen und feiert ebenso 60 Jahre Grundgesetz. Unser Land hat mit dieser Verfassung und der parlamentarischen Demokratie als Basis unseres politischen Systems in den vergangenen sechs Jahrzehnten sehr gute Erfahrungen gemacht. Das Phänomen der Politikverdrossenheit nun mit einer generellen Infragestellung unseres freiheitlich-demokratischen Staates erklären zu wollen, halte ich für zu kurz gegriffen.
Artikel 20 unseres Grundgesetzes besagt, das der Bürger indirekt durch Repräsentanten an der Ausübung staatlicher Herrschaft teilnimmt. Volkssouveränität bedeutet in diesem Zusammenhang eine durch Wahlen und Abstimmungen legitimierte Regierungsform mit Zustimmung des Volkes. Es bedeutet jedoch nicht Volksherrschaft bzw. Selbstregierung des Volkes. Das Grundgesetz unterscheidet diesbezüglich zwischen Wahlen und Abstimmungen. Während mit Wahlen die regelmäßigen Wahlen zu den Volksvertretungen gemeint sind, umfasst der Begriff der Abstimmung Plebiszite – Volksbegehren, Volksentscheid, Volksabstimmung.
Besonders die plebiszitären Instrumentarien erfreuen sich zusehends großer Beliebtheit. Mit ihnen scheint ein Mittel gefunden zu sein, um das Unbehagen an der Politik ganz allgemein, den Parteien und politischen Institutionen aufzufangen. Doch sind die bestehenden Einflussmöglichkeiten umfassender und längerfristiger, als es der eigentliche Wahlakt suggeriert. Denn die Wahlberechtigten entscheiden nicht nur aktiv über die Verteilung der politischen Mandate für eine bestimmte Zeit, gleichzeitig legitimieren sie diese auch. Damit legitimiert die Wahl politische Herrschaft, kontrolliert die Regierenden und garantiert die Bindung der Politik an die Meinungen der Wähler. Sowohl Wähler als auch Nichtwähler üben folglich Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments aus und entscheiden über die Umsetzung politischer Programme in der künftigen Legislaturperiode. Somit bedeutet die Stimmabgabe weit mehr als die Entscheidung darüber, wer den künftigen Regierungschef stellt. Eine klare Zuweisung der politischen Verantwortung ist daher unabdingbar, denn nur so können die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Doch muss den Bürgern auch bewusst sein, dass der Staat eben nicht jedes Problem lösen kann.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Michael Fuchs MdB