Frage an Matthias Wissmann von Guido S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Wissmann,
ich wende mich an Sie als Vorsitzenden des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union und wüsste gerne ob Sie und der Ausschuss sich schon einmal mit dem Rechtsschutzstandard vor den europäischen Gerichten und insbesondere mit dem Rechtsschutz in Beamtensachen befasst haben.
Deren Praxis widerspricht meinen Rechtsstaatsempfinden völlig und ich denke es wäre lohnend, die allgemeinen Verfahrensrechte und die Gerichtspraxis im deutschen (national europäischen) Verwaltungs(Beamten)Recht einmal mit der Praxis auf europäischer Ebene zu vergleichen:
Defizitie auf europäischer Ebene sind m.E.:
- das Fehlen einer Verpflichtungsklage;
- das Fehlen des Amtsermittlungsgrundsatzes gepaart mit:
o weitgehendem Verzicht auf Beweisaufnahmen;
o massiven Präklusionsregeln;
o Beschränkungen z.B. bzgl. Anzahl und Volumen der Schriftsätze;
o hohen Formalanforderungen an Schriftsätze und deren Vollständigkeit;
o dem Informationsmonopol der Institutionen;
o hohen Beweisanforderungen (z.B. hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit von Formverstößen)
- die Tatsache, dass die Rechtsprechung nicht in allen Gemeinschaftssprachen sondern fast ausschließlich in Französisch vorliegt und der daraus resultierenden Ungleichgewichte;
- ein Befangenheitsrisiko der Richter, die ja selbst Dienstherrenaufgaben wahrnehmen;
- die Aussichtslosigkeit einstweiligen Rechtsschutzes;
- die langen Verfahrensdauern;
- das obligatorische Vorverfahren;
- die fehlende öffentliche Kontrolle der Rechtsprechung;
- …
Ich würde mich freuen wenn Sie sich das Thema einmal ansehen könnten und kann Ihnen gerne weitere Hinweise z.B. auf besonders interessante Urteile und Beschlüsse der Gerichte geben.
Sind Sie der Meinung dass dieser Rechtsschutz den Standards des Grundgesetzes und den Vorgaben des BVerfG entspricht?
Mit freundlichem Gruß
G. Strack
Sehr geehrter Herr Strack,
vielen Dank für Ihre E-Mail vom 7. Februar 2007. Sie warfen mehrere Fragen zu den Rechtsschutzstandards vor den Europäischen Gerichten auf, wobei Sie sich insbesondere für den Rechtsschutz in Beamtensachen interessierten. Gerne gehe ich auf Ihre Fragen ein.
Die Europäische Union hat ein eigenes Rechtsschutzsystem zum Schutz des Gemeinschaftsrechts und der hierauf begründeten Rechte der Bürger.
Da die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft im Regelfall des indirekten Vollzuges von Gemeinschaftsrecht keine Verwaltungsakte gegenüber Bürgern erlassen, liefe das Rechtsschutzbegehren der Verpflichtungsklage ins Leere. Dadurch wird der Rechtschutz der Bediensteten der EU nicht verkürzt, denn im Wege der Beamtenklage gem. Art. 236 EGV ist ihnen der Rechtsweg für alle Streitigkeiten zwischen der Gemeinschaft und einem Bediensteten eröffnet.
Um sicher zu stellen, dass das Gericht die erforderlichen Informationen jederzeit und schnell verfügbar hat, sind die Anforderungen an Schriftsätze in der Tat sehr detailliert geregelt. Diese Regelungen gehen allerdings nicht so weit, dass sie die durch den Vertrag vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten einschränken. Zudem haben die Parteien die Möglichkeit Schriftsätze nachzubessern. Im Übrigen sind die Gerichte an die von den Parteien vorgelegte umfassende und glaubhafte Darstellung des Sachverhaltes nicht gebunden, sondern können selbst Sachverhaltsaufklärung vornehmen.
Vor dem EuG und dem EuGH kann jede der 23 Amtsprache der Europäischen Union Verfahrenssprache sein, womit gewährleistet werden soll, dass jeder Bürger in seiner Sprache Rechtshandlungen vornehmen kann. Die Urteile des EuG und des EuGH werden in alle Amtssprachen übersetzt und sind über die offizielle Homepage des EuGH abrufbar ( http://www.curia.europa.eu ). Ich stimme mit Ihnen überein, dass die langen Verfahrensdauern vor den europäischen Gerichten problematisch sind, aber in einer Institution, in der Verfahren mehrsprachig durchgeführt werden, ist eine gewisse Schwerfälligkeit leider unvermeidbar.
Selbstverständlich gilt auch an den europäischen Gerichten der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.
Jedes vor einer Klage durchzuführende Vorverfahren dient einer Selbstkontrolle der handelnden Instanz. Dieser wird die Möglichkeit eingeräumt, die beanstandete Handlung zu überprüfen und gegebenenfalls
zu korrigieren, bevor es zu einem gerichtlichen Verfahren kommt. Gerade bei Beamtenstreitigkeiten dient das Vorverfahren der gütlichen Einigung, was ich für zweckmäßig und sinnvoll halte.
Die Rechtschutzstandards des EuG und des EuGH sind mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft der Rechtsprechung der europäischen Gerichte unterworfen. Diesen Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat das BVerfG in mehreren Entscheidungen bestätigt. Aufgrund des Bekenntnisses des EuGH zum Maximalstandard des Grundrechtsschutzes - zu dem auch die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gehört -, besteht kein Anlass das Urteil in Zweifel zu ziehen. Dies hat das BVerfG in seinem „Maastricht-Urteil“ auch noch einmal bestätigt, indem es feststellte, seine Rechtsprechung in einem „Kooperationsverhältnis“ zum Europäischen Gerichtshof auszuüben.
Mit freundlichen Grüßen
Matthias Wissmann