Wie schätzen Sie den Zustand der Gesellschaft ein? Was trauen Sie der Bevölkerung zu? Welchen Ruck würden Sie der Politik geben? Was beabsichtigen Sie gegen die Überregulierung/Korruption zu tun?
Sehr geehrter Herr H.,
vielen Dank für Ihre Fragen zum Zustand der Gesellschaft. Ich versuche, Ihre sehr grundlegenden Fragen so umfassend wie möglich zu beantworten. Um die Fragen nach dem Zustand der Gesellschaft und dem, was ich der Bevölkerung zutraue, zu beantworten, lohnt ein Blick auf das sozialdemokratische Menschenbild. Im Berliner Programm von 1989 hält die SPD Folgendes fest: „Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren und in die Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Weil der Mensch offen ist und verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, kommt es darauf an, in welchen Verhältnissen er lebt.“ Zentral in dieser Aussage ist für mich, dass die Verhältnisse wichtig sind, in denen der einzelne Mensch lebt. Um allen Menschen die gleichen Rechte und Chancen zu sichern, ist deshalb der Sozialstaat von großer Bedeutung. Als Sozialdemokratin sehe ich eine zentrale Aufgabe des Staates darin, einen Ausgleich zu schaffen. Die Sozialdemokratie gleicht aus zwischen arm und reich. Sie gleicht die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen aus. Sie sorgt für gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt: Für Eltern und Kinderlose, für Menschen mit Behinderung und für Menschen mit Migrationshintergrund. Als Sozialdemokratin kann ich nicht zusehen, wie Mieten immer teurer werden und sich immer größere Teile der Bevölkerung Mieten nicht mehr leisten können. Und als Sozialdemokratin sehe ich den Staat in der Pflicht, Regeln zu schaffen damit alle von ihrem Gehalt leben können. Auch und gerade diejenigen, die in sozialen Berufen tätig sind, in denen keine materiellen Werte geschaffen werden.
Um Ausgleich zu schaffen, sind Regelungen notwendig, häufig gegossen in bürokratische Akte. Und ein Zuviel an Bürokratie kann hinderlich sein. Deshalb gilt seit 1.1.2020 das Bürokratieentlastungsgesetz III, mit dem vor allem Unternehmen entlastet werden. Die Möglichkeiten der Digitalisierung sind zentral, um Verwaltungsakte einfacher, schneller und kostengünstiger zu machen. Und natürlich gehört dazu auch, dass die Notwendigkeit von Verwaltungsakten immer wieder hinterfragt und unnötige Bürokratie ganz abgeschafft wird. Deshalb ist für die Zukunft ein Bürokratieentlastungsgesetz IV geplant.
Gegen Korruption und Lobbyismus haben wir im März dieses Jahres schärfere Regeln durchgesetzt – gegen den Widerstand der Union. Künftig sind bezahlte Lobbytätigkeiten verboten, das heißt zum Beispiel, dass sich Abgeordnete Vorträge nicht mehr vergüten lassen dürfen. Verstöße werden mit Bußgeldern sanktioniert. Abgeordnete dürfen keine Spenden mehr annehmen, Parteispenden sollen transparenter werden. Und Nebeneinkünfte ab 1.000 Euro monatlich bzw. ab 3.000 Euro jährlich müssen künftig auf den Cent genau offengelegt werden.
Zu Ihrer Frage bezüglich des Zustandes der Gesellschaft. Hinter uns liegen eineinhalb Jahre Krisenmodus. Wir alle haben auf so vieles verzichtet, was uns als selbstverständlich galt. Wir haben es geschafft, als Gesellschaft zusammenzustehen, haben sehr schnell Mittel und Wege gefunden uns gegenseitig zu unterstützen. Junge Menschen haben massive Einschränkungen in Kauf genommen, um die besonders bedrohten älteren Generationen zu schützen. Ich denke, all das sind Zeichen, dass die Gesellschaft in einem ganz passablen Zustand ist. Und es zeigt mir, dass der Bevölkerung sehr viel zuzutrauen ist. Dass es dabei kritische Stimmen gibt, ist ein ganz wesentlicher Teil unserer Demokratie. Das muss und kann Demokratie aushalten.
Mit freundlichen Grüßen
M. S.